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Nikes Kopfkino

Hier kommen alle Themen rein, die nichts mit Fernsehenserien zu tun haben.
nike_75
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Nikes Kopfkino

Beitrag von nike_75 »

Hallo zusammen,

dann werd' ich mich auch hier mal mit meinen kleinen Fanfictions vorstellen.

Zumeist sind es kleinere Geschichten mit ein oder zwei Kapiteln, die sich an Spoiler oder Szenen aus diversen Soaps anlehnen - früher war es vor allem VL (Carla/Stella), jetzt ist es GZSZ (Anni/Jasmin), die mich inspirieren. Ab und an - und jetzt gerade auch - gibt es aber auch längere Geschichten.

Ich beschränke mich hier mal auf die GZSZ-Geschichten, da die wohl am "aktuellsten" sind.

Die erste Geschichte ist ein One-Shot, der letztes Jahr im September entstanden ist als es die ersten groben Spoiler zu der Partynacht von Anni und Jasmin gab. Die Story ist komplett verschieden von diesen Szenen und wohl am ehesten als "alternative Szene" zu sehen.

Die zweite Geschichte habe ich vor ein paar Wochen angefangen, auch weil ich es ziemlich heftig finde, wie die versuchte Vergewaltigung von Jasmin in der Serie mehr als "Lektion" betrachtet wird, anstatt das Thema tatsächlich aufzuarbeiten. Meiner Meinung nach geht das eben nicht einfach so an Jasmin vorbei, auch wenn ich die aktuelle Richtung, in die sich Anni und Jasmin in der Serie entwickeln, wirklich mag - gerade weil so viel Humor drin ist. Nur hätte man dann eben die Szenen einfach weglassen sollen. Oder aber man arbeitet das Trauma tatsächlich auf. Die Geschichte ist ein Versuch, dies zu tun.

Ein Dank geht noch an serienfan, die mir als Beta-Readerin zur Seite steht - du machst 'nen tollen Job! :love:

Über ein kurzes Feedback freue ich mich immer, es ist einfach ein gutes Gefühl zu wissen, was die Leser/innen so denken und es motiviert zum Weiterschreiben.

Enjoy!

Nike
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Re: Nike's Kopfkino (Fanfic)

Beitrag von nike_75 »

Hier also der erste kleine One-Shot im September geschrieben mit diesem damaligen groben Spoiler:

Anni tröstet Jasmin wegen dem Streit mit Katrin. Sie verbringen einen Abend zusammen und Anni macht sich an Jasmin ran. Die lässt Anni aber abblitzen.

A nice evening

'Endlich Feierabend', dachte Anni, als sie die Wohnungstür zur WG aufschloss. Seit Pia und John in die vorzeitigen Flitterwochen gefahren waren, half sie nicht nur im Vereinsheim beim Kellnern, sondern hatte auch im Mauerwerk noch ein paar Schichten übernommen.

Gut, dass sie morgen frei hatte, sie musste noch ein paar Bücher für ihre Ausbildung durchforsten. Die praktische Übung bei John war zwar hilfreich – und machte auch unglaublichen Spaß – aber die nächste Klausur würde Anni damit nicht bestehen.

Die Wohnung lag im Dunkeln, nur das Telefon blinkte mit einer Nachricht auf dem AB. Anni schaltete das Licht an, legte im Vorbeigehen ihren Rucksack auf dem Sofa ab und ging zum Telefon.

"Jasmin? Hier ist Dominik. Wenn du zu Hause bist, geh doch bitte ran. Jasmin? … Okay, wahrscheinlich bist du noch irgendwo unterwegs. Mach dir nicht so viele Gedanken, okay? Katrin hat das bestimmt nicht so gemeint. Ruf kurz durch, wenn du da bist. Ich mach mir Sorgen. Ciao."

'Ja, ich mir auch', dachte Anni als die Aufnahme zu Ende war. Sie sah sich um, aber nichts deutete darauf hin, dass Jasmin zu Hause war. Vielleicht war sie ja tatsächlich noch unterwegs. Anni ging zum Kühlschrank und nahm sich eine Flasche Mineralwasser. Als sie sich ein Glas eingoss, bemerkte sie, dass die Tür zu Jasmins Zimmer nur angelehnt war. Anni stellte das Glas ab, ging hinüber, klopfte und schob die Tür vorsichtig ein bisschen auf.

"Jasmin? Bist du da?", fragte sie leise als sie in der halbgeöffneten Tür stehen blieb.

Es kam keine Antwort, nur ein leichtes Schniefen war zu hören.

Anni biss sich auf die Lippe. Sie wusste nicht genau, wie sie sich verhalten sollte. Seit Wochen gab es ein ständiges Auf und Ab in der Beziehung zu ihrer Mitbewohnerin. Mal hatte sie das Gefühl, sie würden sich besser verstehen und dann reichte ein kleines Missverständnis, um die Situation zwischen ihnen bis hin zu Handgreiflichkeiten eskalieren zu lassen. Schließlich gab sie sich einen Ruck und öffnete die Tür so weit, dass sie ins Zimmer blicken konnte. Jasmin saß am Fußende ihres Bettes, die Knie angezogen und den Kopf in den Armen vergraben.

"Hey."

Keine Antwort.

Anni ging langsam zu Jasmin und hockte sich vor sie und berührte sie leicht an der Schulter. Doch Jasmin blickte nicht auf, nur der Griff um ihre Beine wurde fester.

"Jasmin?" - 'Komm schon, schau mich an.', dachte Anni. Doch Jasmin schien sich nur noch weiter verkriechen zu wollen.

Vorsichtig fasste Anni nach Jasmins Händen und zog sie leicht auseinander. Nach einem kurzen Moment des Widerstandes blickte Jasmin auf. Tränen schwammen in ihren Augen und sie flüsterte:

"Sie hasst mich."

"Deine Mom?"

Jasmin nickte.

"Sie hat gesagt, sie wünschte, sie hätte mich nie getroffen." Der letzte Teil des Satzes ging in einem erneuten Schluchzen fast unter.

Anni strich ihr leicht über die Schulter.

"Das hat sie bestimmt nicht so gemeint."

Ein bitteres Lachen war die Antwort. "Da kennst du Katrin nicht. … Sie wird nie wieder mit mir reden, sie wird mir nie verzeihen."

"Natürlich wird sie …"

"Nein.", antwortete Jasmin bestimmt und wischte sich die Tränen vom Gesicht. Sie schaute Anni an und die verstand, dass das Thema damit vorerst beendet war. Sie stand auf und half Jasmin auf die Beine.

"Geht’s?", fragte Anni und Jasmin nickte knapp.

"Ich geh mich kurz frischmachen, okay?"

"Okay."

Die beiden jungen Frauen gingen aus dem Zimmer und Anni sagte:

"Dominik hat auf den AB gesprochen. Willst du ihn kurz zurückrufen?"

Jasmin verzog leicht das Gesicht und gestikulierte leicht in Richtung Anni.

"Kannst du …?"

"Klar, kann ich machen."

Ein leichtes Lächeln und ein "Danke" war die Antwort.

"Kein Problem. Geh du dich mal aufhübschen, sonst fehlt der Glanz in der Hütte."

Jasmin verdrehte ein bisschen die Augen.

"Haha, sehr witzig."

"Aber immer wieder gern.", erwiderte Anni mit einem breiten Grinsen.


"Ja, Dominik, sie ist okay. … Nein, du musst nicht vorbeikommen. … Ja, ich bin sicher. Ich kümmere mich um sie, versprochen."

Bei den letzten Worten kam Jasmin aus dem Bad und Anni bedeutete ihr, dass sie sich schon mal auf die Couch setzen sollte. Dann legte sie auf und warf das Telefon neben sich.

"Boah, ist der eine Glucke. War der auch so als ihr zusammen wart?"

"Manchmal ja, aber eigentlich wollte er nur für mich da sein."

"Will er jetzt anscheinend immer noch."

"Dominik ist fertig mit mir und das kann ich ihm auch nicht verdenken."

Fragend blickte Anni Jasmin an, doch die schüttelte nur den Kopf.

"Themawechsel."

"Okaaayyy. Was zu trinken?"

Jasmin nickte.

Anni erhob sich von der Couch auf und ging zum Kühlschrank. Ohne sich umzudrehen, fragte sie:

"Bier oder Wein?"

"Wein bitte" antwortete Jasmin. Gerade als Anni ansetzen wollte, um zu fragen, fügte sie hinzu "Auf dem Fensterbrett steht noch eine offene Flasche Rotwein. Nimm die."

"Okay."

Anni griff sich zwei Weingläser aus dem Schrank und die Weinflasche, ging damit zurück zur Couch und stellte sie auf dem Tisch ab. Dann ging sie zum Plattenregal und suchte in ihren Platten, die sie vor ein paar Tagen dort mit untergestellt hatte. Kurz darauf erfüllten Gitarrenklänge den Raum. Einen Moment lang lauschte Anni der Musik bevor sie einen Blick Richtung Couch warf. Jasmin hatte sich in eine Decke gekuschelt und sah aus wie ein Häufchen Elend. Die Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengebunden, dunkle Ringe unter den Augen – von dem aufgebrezelten Möchtegern-Starlet, das Anni in den Wochen seit ihrem Einzug so häufig begegnet war, war nicht mehr viel vorhanden.

Sie ging wieder hinüber und füllte die beiden Weingläser während Jasmin immer noch völlig in sich versunken vor sich hinstarrte. Leicht berührte Anni sie am Knie.

"Hey."

Jasmin schreckte kurz auf und sah, dass Anni ihr eins der Weingläser hinhielt. Mit einem leichten Lächeln nahm sie es und bedankte sie sich leise. Annie setzte sich ans andere Ende der Couch und nippte an ihrem Wein.

"Hmmm, der ist gut."

"Geschenk von Kurt."

"Oh. …………… Sorry."

"Kannst du ja nichts dafür. Komm, vernichten wir die letzten Spuren von ihm in meinem Leben."

"Gute Idee." Annie erhob ihr Glas. "Auf neue Wege und die Leute, denen man dabei begegnet."

"Darauf kann man nie genug trinken.", antwortete Jasmin, "Prost."


Eine Stunde später lachten die beiden jungen Frauen entspannt über eine der vielen Reiseanektoden, die Anni gerade erzählt hatte.

"Oh Mann, ich beneide dich echt. Warum hast du das aufgegeben?", fragte Jasmin.

"Hab ich nicht. Ich mach nur eine Pause, zieh meine Ausbildung durch und dann geht’s wieder los.", antwortete Anni.

"Ja, aber drei Jahre Ausbildung, drei Jahre büffeln. Fehlt dir nicht das Gefühl der Freiheit?"

"Wenn ich die Ausbildung fertig hab, hab ich viel mehr Freiheit. Als fertige Tontechnikerin kann ich überall auf der Welt arbeiten. Genau wie du als Schauspielerin."

"Ja klar, ich als Schauspielerin. Anni, ich hab noch nicht mal eine Agentur, geschweige denn irgendwelche Referenzen außer diese katastrophale Reality Show."

Aus Jasmins Stimme sprach Verbitterung. Anni war einen Augenblick lang still, dann fragte sie:

"Warum Schauspielerei?"

"Was?"

"Warum willst du Schauspielerin werden? Ich meine, ich werde Tontechnikerin, weil ich Musik liebe und das Maximum aus dem Sound rausholen will. Also, was ist dein Grund Schauspielerin zu werden?"

Jasmin saß verblüfft da. Sie hatte das Gefühl, sich diese Frage noch nie gestellt zu haben. Anni schaute sie forschend an.

"Ich… Ich weiß nicht. Ich dachte, es sei der schnellste Weg berühmt zu werden. Ich hatte gerade Kurt getroffen und irgendwie war es das naheliegendste."

"Star werden? Das war’s?"

"Anni, was willst du von mir hören? Dass ich davon träume, als nächste Meryl Streep den OSCAR zu bekommen? So komplett daneben in meiner Selbsteinschätzung lieg noch nicht mal ich."

Anni ließ den Ausbruch ruhig über sich ergehen.

"Nein. Was ich wissen wollte, ist, ob es dir Spaß macht. Ob du mit Leidenschaft in andere Rollen schlüpfst und dich ausprobieren willst."

"Ich weiß es nicht, okay?", Jasmin war noch immer gereizt und Anni hob beschwichtigend die Hände.

"Okay, okay, okay … ich hab nix gesagt."

Dann stand sie auf, nahm die leere Weinflasche und die Gläser und ging in die Küche.

'Verdammt!', dachte Jasmin.

'Das war’s dann wohl mit dem netten Abend.', schoss es Anni durch den Kopf und mit dem Rücken zum Wohnzimmer stütze sie die Hände auf der Küchenzeile ab. Sie bemerkte nicht, dass Jasmin aufgestanden und hinter sie getreten war. Anni atmete tief durch und drehte sich um.

"Willst du …"

Überrumpelt von Jasmins Nähe stockte sie. Sie sah, dass sich Jasmins Lippen bewegten, doch es dauerte einen Moment, ehe sie sie hörte.

"… ich wollte dich nicht so anblaffen."

Erwartungsvoll blickte Jasmin Anni an.

"Schon gut, ist okay, halb so wild", stammelte diese und versuchte sich wegzudrehen, doch Jasmin hielt ihren Arm fest.

"Ehrlich Anni, es tut mir leid. Entschuldigung angenommen?"

Doch Anni fühlte nur die Wärme, die von Jasmins Berührung ausging und ihre Hände begannen zu kribbeln. Sie hob ihre rechte Hand und legte sie leicht an Jasmins Wange. Weich war die Haut unter ihren Fingerspitzen und sanft schob Anni eine Haarsträhne aus Jasmins Gesicht. Sie suchte ihren Blick und las darin nur Überraschung. Ein schüchternes Lächeln huschte über Annis Gesicht bevor sie die Augen schloss und sich leicht zu Jasmin beugte, um sie zu küssen.

Plötzlich war Jasmins Hand auf ihrem Arm weg und Anni riss die Augen auf. Jasmin war einen Schritt zurückgetreten und Ungläubigkeit war in ihr Gesicht geschrieben.

"Was soll das, Anni?"

Anni schluckte. Sie konnte sehen, wie die Ungläubigkeit der Wut in Jasmins Augen wich. Sie funkelte sie an.

"Vögelst du dich durch die WG, ja?“ Jasmins Stimme bebte vor Zorn.

"WAS???"

"Erst Pia, jetzt ich? Gibt dir das 'nen Kick, oder kommst du an keine ran, der's gefühlmäßig grad nicht dreckig geht?"

"Sag mal, spinnst du?", explodierte Anni.

"Ob ich spinne?", Jasmin redete sich weiter in Rage, "Nein, du spinnst. Anni, du versuchst mich zu verführen und dabei magst du mich nicht mal."

Tränen standen Jasmins Augen, aber sie hätte nicht sagen können, ob es Tränen der Wut oder der Enttäuschung waren.

"Natürlich …" Anni versuchte beschwichtigend auf sie einzureden – keine Chance. Jasmin hatte sich bereits umgedreht und war zu ihrem Zimmer gegangen. An der Tür hielt sie noch einmal inne und ohne Anni anzusehen, sagte sie leise:

"Ich hab ein Jahr Therapie gebraucht, um Sex nicht mehr als Ablenkung zu benutzen, wenn es mir Scheiße geht. Ich fange nicht mit dir wieder an."

Anni hatte die Augen geschlossen als sie Jasmins Worte hörte.

'F*ck, f*ck, f*ck, f*ck…', schoss durch ihren Kopf und dann fiel die Tür zu Jasmins Zimmer mit einem leisen Klicken ins Schloss.

Langsam ließ sich Anni auf den Boden sinken und vergrub den Kopf in ihre Arme. Sie hätte am liebsten auf irgendetwas eingeschlagen, so wütend war sie auf sich und die Situation. Was zum Teufel war nur in sie gefahren?

"… dabei magst du mich nicht mal … magst … mich … nicht mal … magst … mich … nicht …"

Jasmins Worte brummten wie Drehkreisel durch ihren Kopf und sie stöhnte leise auf.

'OH F*CK!'

Das Leben in der WG war gerade schlagartig schwieriger geworden.


Am nächsten Morgen bleib Jasmin so lange in ihrem Zimmer bis sie das Klicken der Wohnungstür gehört hatte. Sie hatte die ganze Nacht kaum ein Auge zugetan und erst in den Morgenstunden war sie in einen unruhigen Schlaf gefallen. Nach ein paar Minuten und der Gewissheit, dass Anni nicht nochmal zurückkommen würde, weil sie etwas vergessen hatte, entschied sich Jasmin aufzustehen. Gähnend ging Jasmin zur Kaffeemaschine und warf gleichzeitig einen Blick auf den Putzplan. Irgendwie hatte sie sich das angewöhnt in den letzten paar Wochen seit Anni hier wohnte. Doch der Zettel hing nicht an seinem gewohnten Platz. Suchend blickte Jasmin sich um und entdeckte ihn neben ihrem Handy – gemeinsam mit einem kleinen gefalteten Papierschiff in dem ein Zahnstocher mit weißer Flagge steckte. Ein zögerndes Lächeln flog über ihr Gesicht und sie nahm den Zettel in die Hand. Anni hatte für den ganzen Monat Jasmins Namen auf dem Putzplan durchgestrichen und durch ihren ersetzt. Mit einem dicken roten Stift stand "ES TUT MIT LEID!" schräg über dem Blatt. Jasmin musste ein bisschen lachen und griff nach ihrem Handy.

*Entschuldigung angenommen. J.
P.S. Danke!*



The End.
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Re: Nike's Kopfkino (Fanfic)

Beitrag von nike_75 »

Und die auf länger angelegte Geschichte.

Ausgangspunkt: Jasmins Freunde kennen die Wahrheit und lassen sie links liegen, Kurt ist weg, Dominik hat sie bei dem sexuellen Übergriff vor Schlimmeren bewahrt.


Therapy

Prolog

Das Treppenhaus war ins Halbdunkel gehüllt. Einen Moment lang stand Jasmin vor der Wohnungstür zur WG. Sie wusste, dass sie dort drin eine Mauer des Schweigens erwartete. Sie ließ die Hand, in der sie den Schlüssel hielt, sinken. Vielleicht sollte sie doch lieber im Gästezimmer des Townhouses übernachten wie in der Nacht in der all ihre Freunde von ihren Lügen erfahren hatten. Doch Jo hatte für diesen Abend seine Golfpartner zu einem Abendessen geladen und da wollte Jasmin nicht stören. Außerdem fiel ihr dort auch nur die Decke auf den Kopf. Hier in der WG war sie zumindest nicht allein, auch wenn ihre Mitbewohner sie Nichtbeachtung straften. Leise schloss sie auf und öffnete die Tür. Nele und Anni standen mit dem Rücken zur Tür am Herd und kochten. Sie hatten Jasmin nicht bemerkt.

"… schon interessieren, ob die Geschichte mit dem Missbrauch nur Futter für die Presse war. Ich kann mir das einfach nicht vorstellen. So etwas denkt man sich doch nicht aus."

"Ja, man stellt auch kein Sexvideo von sich ins Internet, um dann das Opfer zu spielen. Ach komm, vergiss es, keine Ahnung, was in der ihrem Kopf vorgeht."

"Naja, aber mal ehrlich. Da ist diese Stiftung..."

"Stiftung, pfff. " Anni winkte ab. Sie drehte sich zu Nele und fragte herausfordernd: "Hast du sie da jemals was für machen sehen?"

Nele überlegte einen Moment.

"Nö, hast du recht.“ Anni zuckte nur mit den Schultern. „Aber trotzdem, willst du nicht wissen, ob sie das einfach erfunden hat?"

Jasmin fragte aus dem Hintergrund mit mühsam kontrollierter Stimme:

"Was genau willst du wissen, Nele?"

Die beiden Frauen fuhren herum. Jasmin fuhr fort, immer noch an der Tür stehend:

"Wie das so war als mein Adoptivvater an meinem 14. Geburtstag das erste Mal in mein Bett gestiegen ist? Oder ob es weh getan hat als er mich mit 16 vergewaltigte? Oder wie sich seine Hände angefühlt haben, wenn..."

"Jasmin!", unterbrach Anni sie energisch. "Hör auf und lass Nele in Ruhe!"

Einen Moment lang herrschte gespannte Ruhe im Raum bevor Jasmin kurz nickte und zu ihrem Zimmer ging.

"Viel Spaß dann noch beim Klatschen!"

Mit einem Klicken fiel die Zimmertür ins Schloss.

Nele und Anni blickten sich an. Ihnen stand der Horror ins Gesicht geschrieben.

"Scheiße."
"Fuck!"

Nele machte einen Schritt auf Jasmins Zimmer zu, doch Anni hielt sie am Arm zurück.

"Lass es!"

"Anni, ich will mich nur entschuldigen."

"Nein!"

Fragend sah Nele Anni an.

"Mann Nele, meinst du wirklich, sie will jetzt jemanden sehen? Und was willst du ihr sagen? 'Es tut uns leid, dass wir dir nicht glauben, aber du hat es dir mit deiner Lügerei selbst eingebrockt'? Das ist doch Scheiße."

"Ja, und was machen wir jetzt?"

In diesem Moment hörten sie den Schlüssel im Schloss der Wohnungstür und John und Pia kamen herein.

"Hey Mädels, Essen fertig?"

"NEIN." ertönte es wie aus einem Mund.

Pia schaute die beiden verdutzt an. Sie stemmte die Hände in die Hüften.

"Okay, was ist nun schon wieder los?"

Anni ging zu ihr und fragte:

"Hast du mal 'nen Moment?"

"Klar."

Anni zog Pia am Arm in Richtung ihres Zimmers. Mit einem Blick über die Schulte rief sie:

"Sorry John, ich muss mir deine bessere Hälfte mal eben ausborgen."

Fragend blickte John zwischen den beiden und Nele hin und her. Als Nele jedoch den Mund öffnete, hob er die Hände.

"Danke, ich will es gar nicht wissen. Ich hab genug Stress in meiner Family."


In Annis Zimmer drehte sich Anni zu Pia um und fragte direkt:

"Was weißt du über Jasmins Missbrauch?"

Verwirrt blickte Pia Anni an.

"Es geht um Jasmin? Ich denke, keiner redet mit ihr?"

"Pia! Meine Frage!"

Doch Pia zuckte nur mit den Schultern.

"Ich weiß nichts Genaues. Das war alles bevor ich nach Berlin kam."

"Scheiße."

Pia legte ihr die Hand auf die Schulter.

"Anni, was ist passiert? Das Thema ist uralt."

Anni drehte sich weg und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.

"Mann, Nele und ich haben uns über Jasmin und ihre Lügerei unterhalten und darüber, dass die Missbrauchsstory nur zu gut ins Bild passt und plötzlich stand sie hinter uns."

"Oh nein."

"Oh doch. Sie hat uns ein paar 'kleine Details' an den Kopf geworfen und ist in ihrem Zimmer verschwunden."

"Ach Süße, komm mal her." Pia nahm Anni in den Arm.

"Was machen wir denn jetzt?", fragte Anni leise.

Pia überlegte fieberhaft. Dann nickte sie.

"Dominik. Wir rufen Dominik an. Der kennt die ganze Geschichte, die beiden waren ewig zusammen."

"Okay."

Pia sah Anni fragend an:

"Soll ich?"

Doch Anni schüttelte den Kopf und zog ihr Telefon aus der Tasche während Pia aus dem Zimmer ging. Sie suchte Dominiks Kontakt und drückte auf den Button zum Wählen. Dominik hob nach dem zweiten Klingeln ab.

"Hallo Anni. Was gibt's?"

"Hallo Nik. Sag mal, hast du Zeit und könntest in die WG kommen?"

"Was’n los?"

Sie schwieg einen Moment und sagte dann leise:

"Ich glaub, Jasmin braucht dich."

"Is was passiert? Haben die Typen sie wieder angegriffen?"

In Dominiks Stimme war jetzt Panik zu hören und Anni fragte völlig entgeistert:

"Angegriffen? Was für Typen? Dominik?"

Doch von Dominik kam nur ein hektisches:

"Anni, vergiss es. Ich bin gleich da."

Als Anni das hörte, explodierte sie fast.

"Vergessen? Sag mal, hast du sie…" Doch Dominik hatte schon aufgelegt. "What the f…?"

Frustriert warf sie ihr Handy aufs Bett und stemmte die Hände an die Wand.

"Oh Mann, geht bei der Frau denn nix ohne Drama?"

Anni atmete tief durch. In ihrem Kopf drehten sich Dominiks Worte und die Bilder, die sich dazu gesellten, verursachten Anni leichten Schwindel und sie hatte das Gefühl, kaum Luft zu bekommen.

'Es war bestimmt nicht so, wie sich das grad angehört hat.', dachte sie. 'Komm schon, die Gelegenheit, da Mitleid zu kassieren, hätte sie sich nie entgehen lassen.'

Doch so sehr Anni auch versuchte, sich das einzureden, das flaue Gefühl in ihrem Magen blieb.

Es klingelte.

Sie hob den Kopf und ging wieder nach draußen. John hatte Dominik reingelassen. Die beiden jungen Männer begrüßten sich mit einer kurzen Umarmung.

"Respekt. Das war Rekordzeit.", sagte Anni aus dem Hintergrund und fügte hinzu "Kann ich dich mal kurz sprechen?"

Die anderen blickten sie ob ihres rauen Tons überrascht an, doch Dominik nickte nur kurz und folgte Anni in ihr Zimmer.

"Was ist passiert?"
"Was meintest du mit Typen, die Jasmin angegriffen haben?", fragten beide gleichzeitig als Anni die Zimmertür geschlossen hatte.

"Du zuerst.", nickte Anni Dominik zu. Er senkte kurz den Blick bevor er den Kopf wieder hob und Anni in die Augen sah.

"Letzte Woche als Jasmin bei meinem Vater im Gästezimmer geschlafen hat, haben zwei Typen sie an der U-Bahn-Station angegriffen. Sie wollten wohl das Sexvideo nachspielen mit ihr in der Hauptrolle."

Dominiks Stimme war leise und ernst. Anni setzte sich auf das Bett und schloss die Augen. Das Schwindelgefühl war zurück. Als er fortfuhr, fing seine Stimme ein bisschen an zu zittern und er begann hin und her zu laufen.

"Sie hat sich gewehrt, aber sie waren zu zweit und einer hatte sie von hinten gepackt. Wenn ich nicht dazu gekommen wäre…"

Dominik sprach nicht weiter und drehte sich weg. Anni hatte die Hände vor ihr Gesicht gelegt und versuchte tief durchzuatmen. Eine sich ewig anfühlende Minute lang lag eine fast bleierne Stille über dem Raum. Dominik blickte aus dem Fenster doch alles was er sah, war das Bild, wie Jasmin sich verzweifelt gegen die Arme des Typen gewehrt hatte, der sie in einer perversen Kopie einer Umarmung von hinten umklammert gehalten hatte. Anni riss ihn aus seinen Gedanken.

"Habt ihr die Bullen gerufen?"

Dominik schüttelte den Kopf.

"Sie wollte nicht, dass die Presse davon Wind bekommt."

Anni fuhr auf. Plötzlich fühlte sie eine unbändige Wut in sich und irgendwie fühlte es sich am besten an, sie gegen Dominik und Jasmin zu richten.

"Soll das heißen, da draußen laufen zwei Typen rum, die sie oder jemand anderen jederzeit wieder angreifen könnten? Sag mal, habt ihr sie noch alle? Was wollte ihr? 'Ne Wiederholung oder dass es anderen auch so geht?"

Wütend feuerte sie ihr Kissen gegen die Wand. Dominik lies sie einen Moment lang toben. Er wusste genau, wie sie sich grad fühlte. Dann erwiderte er leise:

"Anni, sie war fix und fertig. Und glaub mir, du kannst sie nicht zwingen. Ich kenn das. Wenn du Jasmin jetzt unter Druck setzt, endet das in einer Katastrophe."

Anni atmete tief durch. Seine Antwort war wie ein Eimer kaltes Wasser und plötzlich fiel ihr ein, warum Dominik eigentlich hier war. Langsam sagte sie:

"Du meinst ihren Missbrauch."

Dominik nickte und Anni musste schlucken.

"Da wären wir dann bei dem Grund, warum ich dich angerufen habe."

Er sah sie nur fragend an. Leicht beschämt senkte Anni den Blick und Dominik musste genau hinhören, um sie zu verstehen.

"Nele und ich haben sie wohl versehentlich daran erinnert und zusammen mit dem, was du mir grad erzählt hast…"

Verstehend nickte Dominik.

"Sie hat sich eingeschlossen, stimmt's?"

Anni schüttelte den Kopf, zuckte dann aber mit den Schultern.

"Ich weiß es nicht. Sie ist in ihr Zimmer gegangen."

"Okay. " Dominik drehte sich um und überlegte sich die nächsten Schritte. "Pass auf, ich schau nach ihr. Aber wir brauchen ein bisschen Zeit. Meinst du, ihr könntet uns allein lassen?"

Anni erhob sich. Einen kurzen Moment lang spürte sie einen Stich, dass Dominik anscheinend genau wusste, wie er mit der Situation, die sie vollkommen überforderte, umgehen musste. Doch dann erwiderte sie ruhig:

"Klar, kein Problem. Ich schaff die anderen raus."

Sie gingen beide zur Tür. Kurz bevor Dominik sie öffnete, griff Anni nach seinem Arm.

"Nik?" Er drehte sich nochmal zu ihr um. Nervös spielte sie mit ihren Fingern und schaute zur Seite. "Wir wollten das nicht. Es ist nur, sie ist so…"

"Kompliziert? Frustrierend?" Dominik lächelte leicht. "Ich weiß. Mach dir keine Gedanken, Anni. Es ist nicht eure Schuld." Er zögerte kurz bevor er fortfuhr. "Aber tu mir einen Gefallen und sag niemandem was letzte Woche passiert ist, okay?"

"Okay. Danke, dass du es mir erzählt hast."

Dominiks Lächeln wurde zu einem Grinsen. Er tippte ihr mit dem Finger auf die Nase und entlockte ihr ein kleines schiefes Lächeln.

"Soll ich dir mal das Geheimnis verraten, warum ich dir das anvertraue?"

"Weil ich so ein verständnisvolles Wesen habe?", fragte Anni mit einem selbstironischen Unterton.

"Nein.", antwortete er und lachte kurz auf. Dann wurde er ernst. "Jasmin vertraut dir, Anni. Sie…"

Doch dann schüttelte er den Kopf. Mehr konnte und wollte er nicht sagen. Den Rest mussten die beiden jungen Frauen selbst klären. Aufmunternd lächelte er Anni an und ging aus dem Zimmer. Anni blieb nachdenklich und ein bisschen verwirrt zurück. Was hatte Dominik noch sagen wollen?

Ein Piepen von ihrem Telefon riss sie aus ihren Gedanken. Sie suchte kurz und fand es in ihrem Bett. Pia hatte eine Whatsapp-Nachricht geschrieben:

'Alles okay mit dir?'

'Nein, nicht alles okay.', dachte Anni, antwortete aber mit einem. 'Klar doch, alles easy. Bin gleich da.'

Sie steckte das Handy ein und fuhr sich kurz mit den Händen übers Gesicht. Schließlich gab sie sich einen Ruck und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Dominik stand noch bei John und unterhielt sich mit ihm über die Hochzeit. Pia und Nele naschten von den Nudeln und kicherten vor sich hin. Pia blickte auf und zwinkerte ihr zu. Anni versuchte zu lächeln, doch ihr Blick wurde angezogen von Jasmins Zimmertür. Am liebsten würde sie… 'Nein, verdammt, du kannst grad nichts tun. Lass Dominik das machen.', rief sie sich zur Ordnung. Sie atmete noch einmal tief durch, setzte ein Lächeln auf und fragte lautstark in die Runde:

"Okay, Leute, wer hat Appetit auf Sushi?"

"Aber wir haben doch extra Nudeln gemacht."

"Ja, Nele, aber ich hab keinen Bock auf Nudeln. Los, lass uns gehen."

Anni warf Nele ihre Jacke zu und nahm sich ihre eigene während Pia John bereits aus der Tür drängte. Kurz bevor Anni die Wohnungstür schloss, warf sie Dominik einen dankbaren Blick zu. Er nickte kurz zurück.

Als Ruhe eingekehrt war, ging Dominik zu Jasmins Zimmer. Zögernd klopfte er.

"Jasmin? Ich bin’s, Dominik. Die anderen sind weg. Kann ich reinkommen?"

Eine Zeitlang war es still. Dominik blieb vor der Tür stehen und wartete. Schließlich hörte er ein leises "Komm rein." und er öffnete die Tür. Er war überrascht, dass sie nicht verschlossen war. Es dauerte einen Moment bis sich seine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten. Er suchte und fand Jasmin auf dem Fensterbrett sitzend. Sie starrte in die Dunkelheit hinaus.

"Hey."

"Hey."

Ihre Stimme klang heiser. Dominik wusste nicht ob vom Weinen oder weil sie seit Tagen kaum mit jemandem gesprochen hatte.

"Wie fühlst du dich?"

Jasmin schwieg. Schließlich blickte sie ihn an und er konnte die Tränenspuren in ihrem Gesicht erkennen, die Augen gerötet und trocken. Müdigkeit lag über ihrem Gesicht, die tiefer zu gehen schien als ein paar schlaflose Nächte.

"Leer. Ich fühle mich absolut leer. Es ist einfach nichts mehr da."

Dominik ging zu ihr und nahm sie in die Arme. Reflexartig legte sie ihren Kopf an seine Schulter. Zusammen schwiegen sie bis Jasmin nach ein paar Minuten leise sagte:

"Nik?"

"Ja?"

"Ich glaub, ich brauch Hilfe."

"Ja, ich weiß."

"Gut."

Sie schloss die Augen und zum ersten Mal in den letzten Wochen hatte sie das Gefühl, ein Licht am Ende des Tunnels erkennen zu können.


Ende Prolog.
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Re: Nike's Kopfkino (Fanfic)

Beitrag von nike_75 »

Kapitel 1

Nervös spielte Jasmin mit der Visitenkarte ihrer früheren Therapeutin, immer noch unsicher, ob sie wirklich anrufen sollte. In der vergangenen Nacht, zusammen mit Dominik war alles so klar gewesen. Doch jetzt hatte sie das erste Mal, seit Kurt sie verlassen hatte, wieder eine Nacht durchgeschlafen und da war diese Stimme im Kopf, die ihr zuflüsterte:

'Komm schon, Jasmin, du hast das doch alles schon verarbeitet. Was ist eigentlich dein Problem? Dass Kurt weg ist? Willst du wirklich wieder durch die Hölle gehen? Denn du weißt ganz genau, es wird die Hölle – Nowak, Katrin, das schmutzige Gefühl, dass dich nicht loslassen wird. Du musst das nicht alles nochmal durchmachen. Wozu auch? Für deine sogenannten Freunde, die dich hängen lassen, wenn du sie am nötigsten brauchst? Das macht doch keinen Sinn.'

Jasmin warf die Visitenkarte auf das Bett und presste die Hände an die Ohren. Wie ein Mantra wiederholte sie in Gedanken 'Das stimmt nicht. Sie sind für mich da. Dominik ist für mich da. Er war die ganze Nacht hier. Dominik ist mein Freund.'

Sie blickte zwischen der Karte und ihrem Handy hin und her, doch sie konnte sich nicht überwinden, die Nummer zu wählen. Schließlich verließ sie ihr Zimmer, um sich einen Kaffee zu holen.
Gedankenverloren ging Jasmin zur Kaffeemaschine und bemerkte weder Anni, die am Tisch saß und ihren Kaffee trank, noch dass die Kaffeekanne halb gefüllt war. Sie wollte gerade Wasser in die Kanne einlassen, als Anni sie ansprach:

"Du solltest ihn nicht zu sehr verdünnen. Dann macht er nicht mehr wach."

Erschrocken fuhr Jasmin herum und ließ dabei fast die Kaffeekanne fallen.

"Whoa, whoa, whoa. Komm, lass mich mal machen."

Schnell stand Anni auf, nahm sie ihr ab und stellte sie auf das Küchenboard. Jasmin schlug das Herz bis zum Hals und ihre Hände zitterten leicht. Schnell verschränkte sie die Arme, um es zu verbergen. Anni sah sie an, doch Jasmin wich ihrem Blick aus.

"Alles okay?"

Jasmin versuchte zu lächeln doch es gelang ihr nicht.

"Du hast mich nur erschreckt, das ist alles."

Ihre Stimme bebte und Anni hob entschuldigend die Hände.

"Hey, ich wohne hier."

Jetzt überflog doch ein kleines Lächeln Jasmins Gesicht. Langsam wurde sie ruhiger, auch wenn Anni sie nervös machte. Fast unbewusst wollte sie einen Schritt zurückmachen, doch Anni hatte ihr inzwischen einen Kaffee eingegossen und reichte ihr die Tasse. Ein bisschen verwundert umschloss Jasmin die Tasse mit beiden Händen.

"Danke."

Sie nahm einen Schluck und schloss kurz die Augen als die Wärme sie durchströmte. Als sie sie wieder öffnete, stand Anni immer noch neben ihr. Forschend blickte sie ihre Mitbewohnerin an. Anni wirkte offener als in den letzten Wochen. Vorsichtig fragte Jasmin:

"Seit wann redest du wieder mit mir?"

Anni zuckte mit den Schultern, ging wieder zum Tisch zurück und setzte sich.

"Vielleicht wollte ich nur höflich sein?"

Jasmin sah sie an und schüttelte den Kopf. Anni lächelte ein bisschen provozierend, und sagte in gespielt gleichgültigem Ton:

"Hey, wenn's dir nicht passt, kann ich auch gern das silent treatment wieder auspacken."

Einen Moment herrschte eine angespannte Stille zwischen ihnen, dann stellte Jasmin ihre halb gefüllte Tasse ab und wandte sich um, um zu ihrem Zimmer zurück zu gehen. Kurz bevor sie ihre Tür erreichte, hörte sie Anni sagen:

"Dominik hat mir erzählt, was letzte Woche passiert ist."

Jasmin hielt inne, drehte sich aber nicht zu Anni zurück.

"Ich weiß." Sie schluckte. Dann fuhr sie mit rauer Stimme fort. "Erspar mir dein Mitleid, okay?" und verschwand in ihrem Zimmer.

Fassungslos blickte Anni ihr hinterher. Das war nicht die Reaktion, die sie erwartet hatte. Sie hatte gedacht, dass Jasmin die erstbeste Gelegenheit nutzen würde, um sich trösten zu lassen. Doch dann dachte sie zurück an Dominiks Worte vom vergangenen Abend und dass Jasmin schon seit Tagen über die versuchte Vergewaltigung schwieg. Himmel, ohne Dominik wüsste sie bis jetzt immer noch nichts davon. Frustration stieg in Anni auf. 'Warum kann sie nicht einmal so reagieren, wie man es erwartet? Warum ist 'Unberechenbarkeit' ihr zweiter Vorname? Und wie zum Teufel noch mal kommt sie dazu, mir zu unterstellen, ich würde sie nur bemitleiden?', fragte sich Anni und ihr fielen ihre eigenen Worte ein, die sie Jasmin vor Monaten an den Kopf geworfen hatte: "Die Frau braucht kein Mitleid, die braucht 'nen Arschtritt!" Entschlossen, Jasmin den selbigen zu verpassen, stand sie auf und ging zu Jasmins Tür. Sie klopfte kurz, wartete aber auf keine Antwort, sondern öffnete einfach die Tür. Jasmin stand mitten im Raum, halb zu ihr umgedreht und schon wieder den Schrecken ins Gesicht geschrieben. Doch das war Anni in dem Moment egal.

"Ich hab kein Mitleid, okay?", sagte sie mit mühsam unterdrücktem Ärger in der Stimme.

Als Jasmin sie nur schweigend ansah, fühlte sie die Frustration in sich verebben. Ein bisschen hilflos zuckte sie mit den Schultern und fuhr fort:

"Mitgefühl, ja. Aber kein Mitleid."

Anni wartete auf eine Reaktion, aber die kam nicht. Jasmin wirkte wie betäubt. Schließlich stellte Anni die Frage, die sie die ganze Nacht verfolgt hatte:

"Warum hast du nichts gesagt?"

Die Frage riss Jasmin aus ihrer Starre.

"Was?"

"Warum hast du uns nicht gesagt, was passiert ist?"

Jasmin schaute sie ungläubig an und flüsterte:

"Das ist nicht dein Ernst, oder?" Doch dann wurde ihre Stimme immer lauter. "Warum hätte ich das tun sollen? Um mir dann anzuhören, dass ich es nur erfunden habe? Oder dass ich es ja bitte schön selbst provoziert habe?"

Der Schock über Jasmins Worte traf Anni wie ein Schlag in die Magengrube. Sie schüttelte langsam den Kopf:

"Das glaubst du nicht wirklich, oder? Dass das auch nur einer von uns gesagt hätte."

Jasmin lachte bitter auf und strich sich eine Haarsträhne, die ihr ins Gesicht gefallen war, aus der Stirn bevor sie Anni in die Augen sah:

"Anni, du und Nele, ihr habt euch gestern darüber unterhalten, dass ich mir die 'Missbrauchsgeschichte' wahrscheinlich nur ausgedacht habe, um mich wichtig zu machen."

Scham durchschoss Anni und sie blickte zu Boden. Tonlos fuhr Jasmin fort.

"Was ist der Unterschied?" Sie hob die Hände in einer resignierten Geste. "90 Prozent der Leute da draußen, die wissen, dass ich dieses Video hochgeladen habe, halten mich für eine Schlampe, die alles dafür tun würde, auf Seite 10 in der Klatschspalte zu erscheinen. Eine erfundene oder vielleicht inszenierte Vergewaltigung passt doch da ganz hervorragend."

Anni blickte erschrocken auf, doch Jasmin bemerkte es gar nicht. Es war als redete sie mit sich selbst.

"Und sie haben recht. Ich habe alles getan, um wieder ins Gespräch zu kommen. Ich hab meine Ehe verkauft. Ich hab meine Mutter und meine Freunde belogen." Sie zuckte hilflos mit den Schultern. "Und jetzt muss ich mit den Konsequenzen leben. Kein Job, keine Freunde und Typen auf der Straße, die glauben, ich wäre Freiwild."

Der Kloß in Annis Hals schnürte ihr fast die Kehle zu und sie sagte so leise, dass es kaum zu hören war:

"Was die Typen gemacht haben, ist nicht deine Schuld."

Jasmin sah sie an, Tränen in den Augen. Ihre Unterlippe zitterte als sie antwortete:

"Nein, ist es nicht, aber was glaubst du wie viele Leute das genauso sehen?"

"Dann scheiß auf die Leute." Annis Stimme wurde leidenschaftlicher. "Ich weiß es besser und du weißt es auch besser. Und die ganzen Idioten interessieren uns nicht."

Die Tränen rollten Jasmin jetzt über das Gesicht und Anni konnte sich nicht mehr zurückhalten. Und so tat sie, was sie gestern Abend am liebsten schon getan hätte. Sie ging zu ihr und nahm sie in die Arme. Sie konnte das Beben, das durch Jasmins Körper lief, spüren und sie schluckte ihre eigenen Tränen runter. Nach ein paar Minuten, in denen Anni Jasmin einfach nur festhielt, fühlte sie, wie sich Jasmin langsam entspannte und lehnte sich zurück, um sie anzusehen. Sie biss sich auf die Lippe. Selbst mit verweinten Augen und dunklen Augenringen war sie einfach wunderschön.
Vorsichtig strich sie ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und lächelte leicht als Jasmin bei der Berührung die Augen schloss. Eine letzte Träne kullerte über Jasmins Wange und Anni konnte nicht anders als sie wegzuwischen. Bevor die Versuchung zu groß wurde, trat sie einen Schritt zurück.

"Besser?"

Jasmin wurde ein bisschen rot und sie räusperte sich.

"Ja, danke."

Nervös spielte sie mit ihren Fingern, konnte sie überhaupt nicht still halten. Das entlockte Anni ein leichtes Grinsen. Jasmin war so süß, wenn sie das machte. Jasmins Hände stoppten als sie das sah und wieder wurde sie rot, was Annis Grinsen nur noch verbreiterte. Schließlich griff Jasmin nach Annis Hand und sah ihr in die Augen.

"Danke."

Anni konnte die Erleichterung in Jasmins Augen sehen, die Dankbarkeit und schüttelte den Kopf.

"Kein Thema.", tat sie es mit gespielt leichtem Ton ab, doch Jasmin umschloss leicht ihre Hand, um ihren nächsten Worten Nachdruck zu verleihen:

"Doch, Anni. Danke. Das ist nicht selbstverständlich."

Anni zuckte als Antwort nur mit den Schultern und Jasmin holte tief Luft bevor sie fortfuhr.

"Ich weiß, ich hab es schon so oft gesagt, aber es tut mir wirklich leid, dass ich euch alle angelogen habe. Und ich weiß, dass ich dir damit weh getan habe und damit, dass ich zu feige war, die Wahrheit zu sagen, als du mir die Chance dazu gegeben hast. Ich würde alles dafür geben, es rückgängig zu machen, aber das kann ich nicht und es tut mir leid."

Anni stiegen die Tränen, die sie vorhin zurückgedrängt hatte, in die Augen. Doch sie wandte ihren Blick nicht von Jasmin ab.

"Ich weiß, dass es dir leid tut. Ich weiß, dass du dir wünschst, es wäre nie geschehen. Und ich wünschte, wir könnten einfach da weitermachen, wo wir aufgehört haben, aber das geht nicht."

Jasmin biss sich auf die Lippe und senkte den Kopf als Anni fortfuhr.

"Ich hab dir vertraut. Und ich weiß nicht, ob ich das jemals wieder tun kann. Aber …" Jasmin blickte auf. "… ich denke, wir können es versuchen. Nicht da, wo wir aufgehört haben, aber noch mal neu anfangen."

Ein schüchternes Lächeln überzog Jasmins Gesicht und sie nickte leicht.

"Okay. Ein Neuanfang. Klingt gut."

Die Spannung zwischen ihnen wich vorsichtiger Freude. Von draußen hörten sie, wie sich die Wohnungstür öffnete.

"Anni?" rief Nele.

Anni schaute Jasmin an und sagte verlegen:

"Ähm, ich muss gehen... Nele will unbedingt das Nudelessen von gestern nachholen."

Jetzt konnte sich Jasmin ein Grinsen nicht verkneifen und sie neckte Anni:

"Spaghetti Bolognese à la Brehme oder hat Nele den Kochlöffel an sich gerissen?"

Anni erwiderte das Grinsen und verkündete stolz:

"Ich durfte die Zwiebeln schneiden." Sie blickte auf ihre Hände, die immer noch ineinander lagen. Langsam ließ sie Jasmins Hand los und öffnete den Mund, doch Jasmin kam ihr zuvor:

"Ist schon okay. Viel Spaß euch beiden."

"Du könntest mitessen."

Doch Jasmin schüttelte den Kopf.

"Nee, lass mal. Ich muss noch was erledigen und ich will Nele nach gestern nicht in Verlegenheit bringen."

Anni nickte. Ihr lag noch etwas auf dem Herzen und so griff sie nochmals nach Jasmins Hand und sagte:

"Das von gestern, das tut uns leid. Es war nicht in Ordnung und wir wollten dich damit nicht verletzen."

"Ist schon okay. Ich nehm’s euch nicht übel."

Nachdenklich sah Anni sie an. Sie wusste nicht genau warum, aber es störte sie ein bisschen, dass Jasmin die Sache so scheinbar locker nahm. Anni konnte sich nicht vorstellen, dass das Thema für Jasmin so klar einzuordnen war. Aber sie wusste auch nicht, ob und wie sie Jasmin darauf ansprechen sollte und dann hörte sie Nele von draußen schon wieder rufen und antwortete:

"Ich komme gleich, einen Moment."

Jasmin ließ sie los und nickte ihr leicht zu und so ging Anni rückwärts bis zur Tür.

"Bis später dann."

"Ja. Und danke nochmal."

Anni öffnete die Tür und ging nach draußen. Jasmin hörte durch die geschlossene Tür, wie Nele fragte:

"Was hast du denn bei Jasmin gemacht?"

"Ach, sie hatte noch eine CD von mir, die wollte ich holen."

"Und wo ist die?"

"Hab sie nicht gefunden."


Kopfschüttelnd und mit einem leichten Lachen über Annis Ausrede drehte sich Jasmin um und ihr Blick fiel auf die Visitenkarte, die sie vorhin auf das Bett geworfen hatte. Sie schaute noch einmal auf die geschlossene Tür und eine lang vermisste Zuversicht breitete sich in ihr aus. Es war, als ob das Gespräch mit Anni ihr eine zentnerschwere Last von den Schultern genommen hatte. Und vielleicht war das auch so, wenn sie daran dachte, wie sehr Annis kalte Verachtung in den letzten Wochen sie getroffen hatte. Entschlossen nahm sie die Visitenkarte und ihr Telefon und ging zum Fenster. Einen Moment lang beobachtete sie das bunte Treiben auf der Straße. Lachende Leute, spielende Kinder, streitende und sich küssende Paare. Eine diffuse Sehnsucht erfasste sie, die sie nicht greifen konnte. Dann wählte sie die Nummer.

"Psychotherapie Jellinghaus, guten Tag."

"Frau Jellinghaus, hier spricht Jasmin Le…, Jasmin Flemming. Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern. Ich war vor ein paar Jahren bei Ihnen, damals hieß ich aber noch Nowak."

Einen Moment lang konnte Jasmin das Klicken einer Tastatur hören. Sie wartete.

"Frau Nowak, der Gerichtsprozess Ihrer Mutter. Ja, ich erinnere mich. Wie kann ich Ihnen helfen?"

Jasmin schluckte. Dann sagte sie mit entschlossener Stimme.

"Ich brauche einen Termin bei Ihnen. Wenn es geht, noch diese Woche."

"Lassen Sie mich kurz nachschauen." Jasmin hörte, wie die Therapeutin in ihrem Kalender blätterte. "Wie sieht es bei Ihnen diesen Donnerstag, 16:00 Uhr aus?"

"Danke, das ist super. Ich bin dann da. Übermorgen 16:00 Uhr."

"Gut, dann sehen wir uns in zwei Tagen. Falls es dringender wird, dann rufen Sie bitte an."

Jasmin wollte protestieren. Zwei Tage würde sie auf jeden Fall schaffen, doch dann schluckte sie die Worte lieber runter.

"Danke für Ihre Hilfe. Ich komme drauf zurück, wenn nötig. Auf Wiederhören."

"Auf Wiederhören, Frau Flemming."

Jasmin legte auf. Ihre Hände zitterten, aber endlich hatte sie wieder einmal das Gefühl, das Richtige getan zu haben. Es wurde Zeit, dass sie ihr Leben in den Griff bekam.


Ende Kapitel 1.
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Re: Nike's Kopfkino (Fanfic)

Beitrag von nike_75 »

Kapitel 2

Leises Gemurmel holte Anni aus ihrem Schlaf. Orientierungslos tastete sie nach ihrem Wecker, doch das Gemurmel hielt an. Langsam öffnete Anni die Augen. Noch schien kein Morgenlicht zum Fenster herein. Sie richtete sich auf und suchte auf dem Nachttisch nach ihrer Uhr. 2:39 Uhr. 'Verdammt!' Anni ließ sich wieder ins Kissen fallen. Aus dem Wohnzimmer hörte sie leise Stimmen. 'Fernseher', realisierte Anni und fragte sich, wer von ihren Mitbewohnerinnen bitte schön um diese Zeit noch vor dem Kasten saß. Sie räusperte sich und stand auf, um sich ein Glas Wasser aus dem Kühlschrank zu holen. Gähnend fuhr sie sich auf dem Weg in die Wohnküche mit der Hand über die Augen.

Als sie ihr Zimmer verließ, sah sie einen Schwarz-Weiß-Film über den Bildschirm flackern und Annis Blick fiel auf die Couch. Sie stoppte abrupt. Jasmin lag auf der Couch, noch in dem T-Shirt, was sie den Tag über getragen hatte. Eine Decke lag halb über ihren Beinen und in den Armen hatte sie ein Kissen, an das sie sich regelrecht klammerte. Jasmin schlief friedlich. Anni ging auf Zehenspitzen zur Couch und beugte sich über sie, um die Decke weiter hochzuziehen. Jasmin rührte sich nicht, langsam und tief war ihr Atem und Anni setzte sich auf den Boden und schaute sie an. Jasmins dunkles Haar verdeckte ihr Gesicht ein bisschen und eine der Strähnen bewegte sich mit jedem Atemzug. Lange Wimpern fielen über ihre Augen, aber auch sie konnten die fast schwarzblauen Ringe darunter nicht verbergen. Anni streckte ihre Hand aus und fuhr mit dem Zeigefinger die Konturen von Jasmins Gesicht nach, darauf bedacht, sie nicht wirklich zu berühren. Sie wollte sie streicheln, so sehr, dass ihre Finger anfingen zu zittern, aber das wäre nicht richtig. Schließlich ließ Anni ihre Hand sinken.
Sie entdeckte die Fernbedienung auf dem Tisch, nahm sie und schaltete den Fernseher aus. Dunkelheit umgab sie nun und sie strich noch einmal über die Decke und flüsterte:

"Schlaf gut."

Dann erhob sie sich und ging zurück zum Kühlschrank. Als sich Anni gerade ein Glas Wasser eingegossen hatte und die Flasche zurückstellte, hörte sie ein leises Wimmern von der Couch. Sie drehte sich um, doch Jasmin hatte sich nicht bewegt und es war wieder still. Anni ging so leise wie möglich zurück zu ihrem Zimmer, doch noch bevor sie die Tür erreichte, wiederholte sich das Wimmern, diesmal lauter und dazwischen konnte Anni ein unterdrücktes "Nein" vernehmen.

Schnell stellte sie ihr Glas ab und näherte sich der Couch. Falten hatten sich auf Jasmins Stirn gebildet und sie bewegte sich unruhig. Das Kissen in ihren Armen inzwischen krampfhaft umklammert, sah es aus als versuchte Jasmin von ihren unsichtbaren Angreifern wegzukommen, aber die Rückenlehne der Couch ließ ihr keinen Ausweg. "Nein, bitte nicht" – das Wimmern war zu einem Betteln geworden und Anni erschrak als sie erkannte, wovon Jasmin träumte. Vorsichtig näherte sie sich Jasmin und schüttelte sie leicht an der Schulter:

"Jasmin?", flüsterte sie. "Wach auf, du hast einen schlechten Traum."

Keine Veränderung, nur die Bewegungen von Jasmin wurden panischer. Anni fasste ihre Schulter fester und versuchte sie aus dem Albtraum zu holen. Plötzlich fuhr Jasmin mit einem lauten "Fasst mich nicht an!" auf und stieß sie so kräftig zurück, dass Anni fast rückwärts über den hinter ihr stehenden Sessel gefallen wäre. Gerade noch rechtzeitig stützte sie sich ab und behielt so das Gleichgewicht. Jasmin saß aufrecht, die Knie an den Körper gezogen, die Augen irrten im Raum umher, halb glasig und Anni begriff, dass sie noch immer in ihrer schrecklichen Traumwelt gefangen war. Schnell ging sie um den Tisch herum, um sich Jasmin von vorn zu nähern, so dass sie sie sehen konnte.

"Jasmin?", Anni versuchte ihre Stimme so normal wie möglich zu halten.

"Geht weg! Lasst mich in Ruhe!"

Die Panik in Jasmins Stimme ließ Anni fast erstarren. Eine leichte Verzweiflung erfasste sie und sie versuchte zu Jasmin durchzudringen.

"Hey, ich bin's - Anni", sie streckte die Hände aus und sah, dass Jasmin sie anschaute. "Erkennst du mich?" Anni blieb ca. einen Meter von Jasmin entfernt stehen und wartete. Langsam wurden Jasmins Augen klarer und auch ihr Atem beruhigte sich. Anni blieb still stehen, sie traute kaum sich zu rühren aus Angst, Jasmin weiter zu verschrecken.

"Anni?", fragte Jasmin mit bebender Stimme.

Erleichterung durchströmte Anni.

"Ja, ich bin's." Sie lächelte ein bisschen.

Jasmin warf das Kissen ans Ende der Couch und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Dann blickte sie auf. Anni stand immer noch einen Schritt von ihr entfernt.

"Was ist passiert?", fragte sie leise.

"Du hattest einen Albtraum. Ich hab versucht, dich zu wecken."

Sie näherte sich der Couch und wollte Jasmins Hand nehmen, doch diese wich zurück.

"Nicht. Nicht anfassen bitte."

Anni sah sie erschrocken an und ließ ihre Hände sinken. Jasmin wirkte wie ein in die Enge getriebenes Tier, die wilde Panik noch nicht komplett aus ihren Augen verschwunden und Anni musste schlucken bei dem Anblick. Sie ging wieder einen Schritt zurück und überlegte fieberhaft, was sie jetzt machen sollte. Zögernd fragte sie:

"Willst du… willst du drüber reden?"

Ein vehementes Kopfschütteln war die Antwort. Anni nickte.

"Okay. Okay." Sie brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. "Bleib sitzen, ich hol dir ein Glas Wasser."

Anni stand auf und ging zum Kühlschrank. Sie konnte spüren, wie Jasmins Augen sie verfolgten. Selten zuvor in ihrem Leben hatte sie sich so hilflos, fast ohnmächtig gefühlt. Normalerweise war es kein Problem für sie, auch in brenzligen Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren, aber Jasmin war schon immer die Ausnahme von dieser Regel gewesen. Einen Moment lang lehnte Anni ihren Kopf gegen die Kühlschranktür. 'Okay, Anni. Schritt für Schritt. Das wichtigste ist jetzt, dass sie sich beruhigt. Alles andere hat Zeit bis morgen.' Sie nahm ein neues Glas aus dem Schrank und goss langsam das Wasser ein. Auf dem Rückweg zur Couch nahm ihr Glas von vorhin mit und setzte sich in den Sessel, der schräg zur Couch stand. Bedacht darauf, Jasmin nicht zu berühren, reichte sie ihr das Wasser. Jasmin saß noch immer mit angezogenen Beinen in der Ecke der Couch. Ihre Hände zitterten leicht als sie Anni das Glas abnahm.
"Danke", sagte sie leise und nahm hastig einen Schluck. Sie verschluckte sich und Anni stand schnell auf, um ihr auf den Rücken zu klopfen, doch Jasmin zuckte zurück und streckte eine Hand wie zur Abwehr aus.

"Ist okay, ich bin okay." Sie stellte das Wasser ab und lehnte sich zurück in die Couch. Einen Moment lang schloss Jasmin ihre Augen. Leise begann sie zu sprechen:

"Ich konnte nicht schlafen und hab noch einen Film geschaut. Dann bin ich wohl eingeschlafen."

"Ich hab den Fernseher gehört", antwortete Anni. Schnell blickte Jasmin auf.

"Sorry, ich wollte dich nicht wecken. Tut mir leid."

Doch Anni schüttelte den Kopf.

"Ist schon okay."

Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Beide hingen ihren Gedanken nach, unsicher, was sie machen oder erklären sollten. Schließlich fuhr Jasmin fort:

"Es hilft mir, weißt du?" Anni sah sie fragend an und Jasmin deutete auf den Fernseher. "Der Fernseher. Gibt mir das Gefühl, dass ich nicht allein bin. Das macht es einfacher."

Und Anni begriff, was den Albtraum hervorgerufen hatte. Es war die Stille gewesen. Sie schluckte. Warum hatte sie das blöde Ding auch ausgeschaltet? Sie könnte sich ohrfeigen bei dem Gedanken. Doch dann drehten sich ihre Gedanken weiter und wie ein Film liefen die letzten Tage vor ihrem inneren Auge ab, in denen Jasmin kaum aus ihrem Zimmer gekommen war. Plötzlich überkam sie eine leichte Übelkeit und Anni sog scharf die Luft ein. Jasmin war allein gewesen, allein mit ihren Gedanken, allein mit den Erinnerungen, allein mit… Hastig hob sie den Kopf und fragte mit rauer Stimme:

"Wie oft?", doch Jasmin antwortete nicht. "Wie oft hattest du diesen Albtraum, Jasmin?"

Jasmin schwieg und sie sah Anni auch nicht an. Sie blickte zur Seite, das Gesicht hinter ihren Haaren verborgen und Anni verstand, dass sie mit ihrer stillen Vermutung ins Schwarze getroffen hatte.

'Jede verdammte Nacht.'

Anni stand auf, sie konnte einfach nicht mehr ruhig dasitzen. Sie begann auf und ab zu laufen, die Gedanken in ihrem Kopf drehten sich und sie versuchte fieberhaft irgendeine Ordnung hineinzubekommen. Schließlich wandte sie sich zu Jasmin um, hob die Hände und sagte:

"Ich versteh’s nicht."

Jasmin sah sie wie betäubt an. Der Albtraum, der sie die ganze letzte Woche lang verfolgt hatte, hielt sie noch immer in seinen Fängen und plötzlich war ihr kalt. Sie begann leicht zu zittern und hörte Anni nur noch wie durch eine Wattewand. Ihre Worte waberten an Jasmin vorbei ohne tatsächlich anzukommen. Annis Stimme wurde lauter. "Du wirst fast vergewaltigt, du hast Albträume, du schläfst nicht, du isst kaum und du lässt dir nicht helfen."

Anni stoppte ihr Umherlaufen und wartete auf eine Antwort. Erst nach einigen Momenten realisierte sie, dass Jasmin sie anscheinend kaum gehört hatte. In ihrer Aufgebrachtheit hatte sie übersehen, dass Jasmin kurz vor einer Panikattacke stand. Ihr Atem ging bereits unregelmäßig und wieder verkroch sie sich in sich selbst, machte es dadurch aber nur noch schlimmer.

"Shit." Anni sah sich um. 'Eine Tüte, ich brauche eine Papiertüte.' Sie sah sich hastig um und ihr Blick fiel auf die Brötchentüte vom Vortag. "Ayla, du bist ein Schatz", murmelte Anni, griff sich die Tüte, kippte das letzte Brötchen auf den Tisch und ging schnell zurück zur Couch. Inzwischen zitterte Jasmin am ganzen Körper und Tränen standen ihr in den Augen. Anni trat hinter die Couch und hielt Jasmins Arme fest gegen den Oberkörper gepresst, so dass sie nicht um sich schlagen konnte. Sie biss sich auf die Lippen als sie spürte, wie sich Jasmin mit aller Kraft gegen die Umklammerung wehrte, doch sie ließ sie nicht los. Nach einem stummen Kampf, der sich für beide ewig anfühlte, sackte Jasmin von einem Moment auf den anderen in sich zusammen und Anni konnte ihr die Papiertüte auf Mund und Nase drücken. Sie lockerte die Umklammerung, strich ihr sanft über das Haar und flüsterte:

"Ein und Aus. Ein und Aus. Ganz langsam. Shhhh."

Anni schloss die Augen und spürte, wie Jasmin von Minute zu Minute ruhiger wurde. Anni atmete erleichtert aus. Schließlich fühlte sie, wie Jasmins Hand nach ihrem Arm griff und die Papiertüte wegzog. Erschöpft ließ Jasmin sich nach hinten sinken und ihr Kopf landete an Annis Schulter. Anni erstarrte und einen Moment lang wagte sie kaum zu atmen. Nach ein paar Minuten öffnete sie die Augen und sah Jasmin an. Halb getrocknete Tränenspuren waren auf ihrem Gesicht zu erkennen und sie hatte die Augen geschlossen. Fast schien es, als wäre sie wieder eingeschlafen. Doch als Anni sie auf die Couch zurücklegen wollte, griff Jasmin nach ihrer Hand und flüsterte:

"Bleib."

Und so blieb Anni hinter der Couch hocken, Jasmin halb im Arm und fühlte, wie sie selbst ein wenig relaxte. Doch nach einer Weile begannen ihre Beine und ihre Arme zu schmerzen und so sagte sie leise:

"Jasmin?"

"Hm?"

"Mir schlafen meine Beine ein."

Langsam blinzelte Jasmin und öffnete die Augen. Anni schluckte und dachte trocken. 'Das nennt man dann wohl einen Schlafzimmerblick.' Sie spürte leichte Erregung in sich aufsteigen und bemühte sich, das Gefühl wieder wegzuschieben. Das war jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt dafür.

Jasmin hob den Kopf und sah Anni genauer an. Eine leichte Röte hatte das Gesicht ihrer Mitbewohnerin überzogen. 'Niedlich', schoss es Jasmin durch den Kopf, bevor sie den Gedanken auch nur zu fassen bekam. Verlegenheit überkam sie.

"Oh", murmelte sie, entknotete hastig ihre Beine und erhob sich von der Couch. Auch Anni stand langsam auf und schüttelte Arme und Beine aus. Sie vermieden es, sich anzusehen, zu unsicher, wie sie die eben entstandene Situation einschätzen sollten. Nervös griff Jasmin nach ihrem Glas Wasser und nahm einen Schluck. Dann drehte sie sich zu Anni um und deutete mit ihren Händen in Richtung ihres Zimmers.

"Ich... ich glaub, ich geh dann mal schlafen."

Anni blieb wie angewurzelt stehen und nickte nur leicht. Sie blickte Jasmin hinterher bis sich die Tür mit einem leisen Klicken hinter ihr schloss. Dann fuhr sie sich mit beiden Händen über das Gesicht. Sie schaute auf die Uhr. 3:57 Uhr. Anni verzog das Gesicht. Es hatte sich so viel länger angefühlt und sie war todmüde. Doch sie wusste, dass an Schlaf in dieser Nacht nicht mehr zu denken war. Sie drehte sich um und ging zurück in ihr Zimmer. Dort griff sich Anni ihre Gitarre, die Kopfhörer und fing leise an zu spielen. Sie konnte nur hoffen, dass Jasmin für den Rest der Nacht zur Ruhe kam. Anni gestand sich ein, dass sie am liebsten bis zum Morgengrauen über Jasmins Schlaf gewacht hätte, aber das würde wohl ein unerfüllter Traum bleiben.


Ende Kapitel 2.
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Re: Nike's Kopfkino (Fanfic)

Beitrag von nike_75 »

Kapitel 3

Als Jasmin am nächsten Morgen ihr Zimmer verließ, stand Anni mit einer Tasse Kaffee in der Hand am Küchenboard und schaute aus dem Fenster. Sie schien tief in ihren Gedanken versunken.

"Hi", sagte Jasmin leise und riss Anni damit aus ihren Gedanken. Anni räusperte sich.

"Hi", antwortete sie ebenso leise und fragte: "Geht's dir gut?"

Noch während sie nickte, spürte Jasmin Annis forschenden Blick. Annis Frage, wie ihre Nacht gewesen war, kam Jasmin zuvor: "Ich bin wirklich ganz schnell eingeschlafen und hab auch keinen Albtraum mehr gehabt."

Doch sie verschwieg, dass sie sich vor dem Einschlafen über das Gefühl von Annis Armen auf ihrer Haut nachgedacht hatte. Die Erinnerung daran machte Jasmin ein wenig verlegen. Verstohlen blickte sie zu Anni hinüber und legte ihr die Hand auf den Arm. "Danke, Anni, für deine Hilfe heute Nacht. Ich weiß echt nicht, was ich ohne dich gemacht hätte."

Trocken und mit einem Hauch Selbstironie in der Stimme erwiderte Anni: "Einfach auf der Couch bis zum Morgen gepennt, weil ich den blöden Fernseher nicht ausgemacht hätte?"

"Du machst dir aber deswegen jetzt nicht wirklich Vorwürfe, oder?", blickte Jasmin ihre Mitbewohnerin irritiert an.

Schulterzuckend ließ Anni den Blick zum Fenster schweifen. Sie hatte den Rest der Nacht kein Auge zugetan und mit jeder Minute war der Ärger auf sich selbst gewachsen. Und es war nicht nur Jasmins Albtraum gewesen, der ihr zu schaffen machte, sondern die ganze Situation, die erst zu dem Übergriff auf Jasmin geführt hatte. Vielleicht wäre es nie dazu gekommen, wenn Jasmin nicht ausgezogen wäre, wenn sie alle sie nicht hätten einfach fallen lassen. Aber Anni war so unfassbar wütend auf sie gewesen.

Fassungslos bemerkte Jasmin, wie sich Schuld und Ärger auf Annis Gesicht abzeichneten und griff nach ihrer Hand. "Nein, Anni, nein."

Anni versuchte ihre Hand wegzuziehen, doch Jasmin ließ nicht los.

"Anni, sieh mich an, bitte", bat sie ihre Mitbewohnerin leise, doch Anni schüttelte nur mit dem Kopf. Sie spürte, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten und versuchte, sie wegzublinzeln. Jasmin ließ Annis Hand los, griff nach ihrem Kinn und drehte ihren Kopf herum, so dass sie sie ansehen musste. In Annis dunklen Augen schwammen ungeweinte Tränen. Jasmin musste bei dem Anblick schwer schlucken. Vorsichtig platzierte sie eine Hand auf Annis Wange und sagte mit Nachdruck: "Es ist nicht deine Schuld, okay. Nichts von dem, was passiert ist, ist deine Schuld. Hast du mich verstanden?"

Doch sie konnte die Zweifel in Annis Augen sehen. Gerade als sie weiterreden wollte, hörten sie Schritte auf der Treppe. Schnell ließ Jasmin Annis Gesicht los und trat einen Schritt zurück. Anni wischte sich mit ihrem Ärmel über die Augen. Dann hob sie die Kaffeetasse und trank einen Schluck von dem inzwischen eiskalten Kaffee. Sie verzog das Gesicht, was Jasmin unvermittelt schmunzeln ließ.

Nele kam in die Küche und stoppte abrupt, als sie Jasmin sah. Unsicherheit und der Ausdruck eines schlechten Gewissens flog über Neles Gesicht, doch bevor sie irgendwas sagen konnte, wünschte Jasmin ihr ruhig einen Guten Morgen.

"Darüber reden wir noch.", fügte sie an Anni gewandt hinzu.

Anni nickte kurz, dann verschwand Jasmin im Bad.

Neles perplexer Blick folgte Jasmin ins Badezimmer. "Sag mal, hab ich was verpasst?", wollte sie von Anni schließlich wissen.

Doch ihre Freundin zuckte nur mit den Schultern und drehte sich zur Kaffeemaschine. "Kaffee? Ich mach 'ne neue Kanne.", versuchte sie vom Thema abzulenken.

"Klar, gern. Danke.", antwortete Nele zögerlich.

Sie spürte, dass Anni etwas beschäftigte seit dem Abend, an dem Dominik hier gewesen war. Nele beobachtete ihre Freundin, wie sie den Kaffee machte und sah, dass ihre Hand leicht zitterte. Irgendetwas war nicht in Ordnung und Nele hatte das dumpfe Gefühl, dass es etwas mit Jasmin zu tun hatte. Entschlossen herauszufinden, was los war, setzte sich Nele an den Küchentisch und wartete geduldig bis Anni mit zwei Kaffeetassen herüberkam und ihr eine reichte.

"Dankeschön.", nahm sie den Kaffee lächelnd in Empfang.

Anni antwortete nicht, sondern setzte sich ihr gegenüber. Sie sah hinüber zur Couch und schaffte es nicht, den Blick abzuwenden. Noch immer verfolgte sie das traurige Bild, das die völlig verängstigte, in einer Ecke der Couch kauernde Jasmin abgegeben hatte. Mit einem leisen "Verdammt" schob sie ihre Kaffeetasse weg. Nele runzelte die Stirn. So hatte sie Anni noch nie gesehen. Klar, sie war manchmal etwas mürrisch und vor ihrem zweiten Kaffee war nichts mit ihr anzufangen, aber jetzt sah sie aus, als hätte sie schon fünf Tassen gehabt und ihre Laune war trotzdem auf dem Nullpunkt. Langsam schob sie die Tasse wieder in die Richtung von Anni und sah sie forschend an, bevor sie sanft fragte: "Willst du mir nicht sagen, was los ist?"

"Es ist nichts los.", antwortete Anni tonlos und griff wieder nach ihrer Tasse. Nele lehnte sich zurück und sah Anni an. Sie glaubte ihr kein Wort.

"Wenn 'Nichts' dir so eine Laune beschert, dann sollte vielleicht besser was los sein. Komm schon, Anni, du weißt, dass du es eh nicht ewig vor mir verbergen kannst! Außerdem seh' ich doch, dass du seit zwei Tagen völlig durch den Wind bist."

"Ich hab keine Ahnung, was du meinst."

Anni sah Nele nicht an und spielte mit dem Henkel ihrer Tasse. Nele schüttelte den Kopf. Sie konnte nicht glauben, dass Anni wirklich dachte, sie könne sie für dumm verkaufen.

"Nee, klar. Du hast keinen blassen Schimmer. Du warst beim Sushi-Essen mit deinen Gedanken komplett woanders, einen Tag später kommst du plötzlich aus Jasmins Zimmer und hast angeblich eine CD gesucht und heute Morgen siehst du aus, als hättest du die ganze Nacht wach gelegen. Anni, wen willst du eigentlich verarschen?"

Neles Stimme war am Schluss lauter geworden und so war das Geräusch der sich öffnenden Badtür untergegangen. Wie angewurzelt stand Jasmin in der Tür. Sie hatte nur die letzten Worte mitbekommen, doch sie sah den Trotz in Annis Gesicht.

"Weißt du was, Nele? Auch wenn du es dir nicht vorstellen kannst, es gibt Dinge, die gehen dich schlicht und einfach nichts an!", gab Anni scharf zurück, wobei sie aufsprang und ihre Hände an der Tischplatte abstützte.

Sie wollte sich abwenden und gehen, doch Nele hielt sie an ihrem Arm fest und antwortete mit einer unüberhörbaren Warnung in der Stimme: "Anni, ich lass mich von dir nicht so anpampen! Wenn du mir nicht sagen willst, was los ist, kann ich das nicht ändern, aber ich dachte, wir wären Freunde."

Nele war die Enttäuschung deutlich anzuhören. Anni entwand sich dem Griff ihrer besten Freundin und öffnete den Mund, doch Jasmin kam ihr zuvor. "Hört auf! Alle beide!"

Anni blickte genauso schnell auf wie Nele sich umdrehte. Jasmin versuchte ihre zitternde Stimme unter Kontrolle zu bekommen, als sie an Nele gewandt leise fortfuhr: "Sorry, Nele, es ist meine Schuld. Ich hab Anni heute Nacht aus Versehen geweckt."

"Es ist nicht deine Schuld!", ging Anni gereizt dazwischen.

Nele sah zwischen Anni und Jasmin hin und her, die sich anschauten und sie hatte das Gefühl, dass die nicht gesagten Worte zwischen den beiden Frauen viel mehr sagten als jede Diskussion oder jeder Streit es je tun könnte. "Okay. Es reicht. Würdet ihr mir jetzt bitte erklären, was hier los ist?", bat sie beide, die Hände zu einer beruhigenden Geste erhoben.

Jasmin blickte Anni noch einen Moment lang an, die langsam den Kopf schüttelte. Sie konnte sehen, dass Anni sie nur beschützen wollte und Dankbarkeit stieg in ihr auf. Aber sie wollte nicht, dass sie sich deswegen mit Nele oder ihren anderen Freunden zerstritt. Nach ein paar Augenblicken des Nachdenkens fällte sie eine Entscheidung und sah Nele an. "In Ordnung. Ich sage euch, was los ist, aber ich will mich nicht wiederholen. Holst du also bitte Ayla dazu? Ich geh mich anziehen."

Während sich Jasmin in Richtung ihres Zimmers bewegte, ging Nele nach oben, um Ayla zu holen.

"Jasmin, du musst nicht…", versuchte Anni ihre Mitbewohnerin aufzuhalten.

Die Türklinke in der Hand drehte sich Jasmin noch einmal zu Anni um. "Es ist okay, Anni.", versicherte sie ihr.

"Nein, ist es nicht. Es geht sie nichts an.", widersprach Anni und ihre Stimme wurde lauter.

"Anni!", unterbrach Jasmin sie energisch. "Mein Leben, meine Entscheidung! In Ordnung?"

"Aber…"

"Kein Aber."

Eine Weile herrschte Schweigen zwischen ihnen, das Jasmin schließlich durchbrach. "Rufst du bitte noch Pia, John und Tuner an?"

"Bist du sicher?", vergewisserte sich Anni, zweifelnd, dass Jasmin wusste was sie tat und sich auch der Konsequenzen bewusst war, die ihre Entscheidung nach sich ziehen würde. Rückgängig machen ließ sich hinterher nichts mehr.

Jasmin nickte kurz, dann drehte sie sich um und schloss die Tür hinter sich. In ihrem Zimmer lehnte sie sich kurz gegen die Tür und atmete tief durch. Ihr war ein wenig schwindlig und so setzte sie sich für ein paar Minuten auf den Boden, den Rücken an die Tür gelehnt. Als die schwarzen Punkte nicht mehr vor ihren Augen tanzten, stand sie auf und suchte ihre Klamotten zusammen. Jeans, T-Shirt, dicke Socken. Nichts extravagantes, einfach nur bequem. Sie zog sich an und band sich die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Dann nahm sie ihr Telefon und die Karte von Frau Jellinghaus vom Tisch und wählte die Nummer. Jasmin wusste, dass sie nach dem Gespräch mit ihren Freunden heute Hilfe brauchte und nach der Panikattacke in der Nacht davor wollte sie nicht bis zum nächsten Tag warten.

Draußen im Wohnzimmer saßen Ayla und Nele auf dem Sofa und beobachteten wie Anni hin und her lief, während sie mit Tuner diskutierte. Pia und John waren schon auf dem Weg. Schließlich platzte Anni am Telefon der Kragen. "Tuner, verdammt noch mal, komm her oder lass es bleiben, is' mir doch egal."

"Is' ja jut, ick komme. Mach doch mal keenen Stress."

Anni verdrehte die Augen und legte auf.

Fünf Minuten später waren alle im Wohnzimmer versammelt. Leise klopfte Anni an Jasmins Zimmertür. Jasmin öffnete die Tür und winkte Anni wortlos herein, da sie noch telefonierte. Anni war gerade lange genug im Zimmer, um mit anzuhören wie Jasmin einen Termin für den Nachmittag bestätigte. Am Ende des Telefonats blickte Anni Jasmin fragend an. Statt sich zu erklären, reichte Jasmin ihr nur eine Visitenkarte.

'B. Jellinghaus – Psychotherapie, Traumabewältigung'

"Du machst 'ne Therapie?", fragte Anni überrascht.

Jasmin nickte verlegen. "Ich kenne sie noch aus der Zeit als das mit meinem Adoptivvater so richtig schlimm wurde. Sie hat mir damals sehr geholfen.", erklärte sie leise und mit stockender Stimme.

Sie war sich nicht sicher, wie Anni reagieren würde und hatte ein bisschen Angst, dass sie es lächerlich finden würde.

"Wow.", machte Anni, unüberhörbares Erstaunen in der Stimme. "Du holst dir Hilfe. Find ich gut.", fügte sie lächelnd hinzu.

"Ich weiß, dass es Dinge gibt, die ich alleine nicht schaffe.", zuckte Jasmin mit den Schultern. "Sind alle da?"

Anni nickte und fragte sie nochmals, die Zweifel in ihrer Stimme hörbar: "Bist du dir wirklich sicher? Ich schmeiß' sie auch gern alle wieder raus."

Annis herausfordernder Tonfall entlockte Jasmin ein Lachen. Ob sie sich sicher war? Nein, das war sie nicht! Ihre zitternden Hände, die sie versuchte zu verbergen, indem sie sie verschränkte, waren ein Beleg dafür, dass es ihr nicht so gut ging wie sie alle gerne glauben machen wollte.

"Ich bin sicher. Es sind meine Freunde, oder? Sie verdienen es, die Wahrheit zu kennen und ich will auch nicht, dass du und Dominik für mich lügen müsst.", antwortete sie allen Zweifeln zum Trotz.

Anni sah ihr einen Moment lang forschend in die Augen und sah die Angst, die sich hinter Jasmins Entschlossenheit verbarg. Eine Welle von Gefühlen überrollte sie. Stolz, Bewunderung, der Wunsch, sie in die Arme zu nehmen und eine Liebe, wie sie sie noch nie zuvor empfunden hatte. "Du bist 'ne tolle Frau, weißt du das?", sagte sie leise.

Verlegen schwieg Jasmin. Die Stille im Raum wurde schwer. Zuviel Unausgesprochenes war da zwischen ihnen, doch irgendwie spürten sie, dass jetzt nicht der richtige Augenblick dafür war. Schließlich gab sich Jasmin einen Ruck und ging zur Tür. Über die Schulter hinweg sagte sie zu Anni: "Komm, Zeit für die Wahrheit."

Bevor sie die Tür aufmachte, spürte sie, wie Annis Hand über ihren Rücken strich und hörte sie flüstern: "Denk dran, du bist nicht alleine. Ich bin da."

Jasmin fühlte, wie sie bei Annis Worten und unter ihrer Berührung ein klein wenig entspannte. "Ich weiß."

Gemeinsam mit Anni trat sie aus ihrem Zimmer. Ihre Freunde standen oder saßen in Grüppchen zusammen. John und Pia, und Tuner hatte sich zu Nele und Ayla gesellt. Sie unterhielten sich leise, doch Jasmin war viel zu nervös, um dem Gesprochenen zu folgen. Als sie die Tür hörten, blickten die Freunde auf. Jasmin konnte das Misstrauen in den Augen ihrer Freunde sehen, und sie zuckte innerlich ein wenig zusammen.

"Hey", sagte sie leise, doch nur Pia antwortete mit einem ebenso leisen "Hey".

Jasmin schickte ein dankbares Lächeln in ihre Richtung. Sie wusste ehrlich nicht, wie sie anfangen sollte. Schließlich half ihr Nele aus der Klemme als sie von der Couch aus anfing zu sprechen: "Okay, ich weiß nicht, was hier los ist, aber du hast gesagt, du wolltest uns was sagen und ich hab echt keine Lust mehr auf kryptische Andeutungen."

Nele schickte einen leicht frustrierten Blick in Annis Richtung, doch die hatte nur Augen für Jasmin, deren Körpersprache sie zu lesen versuchte. Sie würde wirklich jeden einzelnen ihrer Freunde aus der WG schmeißen, wenn deutlich wurde, dass Jasmin diesem ganzen Wahrheitsgedöns nicht gewachsen war. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie das Gefühl, dass die Wahrheit in manchen Situationen verdammt überbewertet wurde. Leise begann Jasmin von dem verhängnisvollen Abend zu erzählen und Anni sah das Erschrecken in Pias Gesicht und wie John sie fest in die Arme nahm, das Mitgefühl in Neles Augen und Ayla, die zu Boden blickte und aussah, als ob sie sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte.

"Scheiße.", platzte es aus Tuner heraus.

Pia löste sich aus Johns Armen. Tränen liefen ihr über das Gesicht, als sie zu Jasmin ging und sie fest umarmte. "Ich bin so froh, dass Dominik rechtzeitig da war und dir nichts passiert ist.", hörte Anni sie Jasmin ins Ohr flüstern.

"Warum hast du denn nichts gesagt?", fragte Pia Jasmin in einem leisen Anflug von Verzweiflung, während sie Jasmin Tränen aus dem Gesicht wischte.

Jasmin zuckte mit den Schultern und Anni konnte den Schmerz in ihrer Stimme hören, als sie antwortete:

"Ich war mir einfach nicht sicher, ob ihr mir glaubt.", antwortete Jasmin. Die Verzweiflung in Jasmins Stimme traf Anni wie ein Schlag und schnürte ihr die Kehle zu.

"Oh Süße, natürlich hätten wir dir geglaubt! Sowas denkt sich doch kein Mensch aus! So darfst du nie nie niemals denken, hörst du?", antwortete Pia fassungslos.

Annis und Neles Blicke trafen sich, und Anni entdeckte jenes Schuldgefühl in Neles Augen, das Anni schon seit Tagen quälte. Nele gesellte sich zu ihrer besten Freundin in die Küche. "Du hast es gewusst?", fragte sie leise.

Anni nickte nur, doch Nele verstand. "Dominik hat es dir erzählt, an dem Abend als er hier war."

"Ihm ist am Telefon was rausgerutscht und ja, dann hat er mir erzählt, was passiert ist.", gab Anni zu.

"Und heute Nacht?"

Anni blickte auf und sah, dass John sich jetzt um Pia und Jasmin kümmerte, die langsam ruhiger wurden. "Sie hatte 'nen Albtraum.", erklärte sie ihrer besten Freundin.

"Gott, sie tut mir so leid! Können wir ihr irgendwie helfen?"

"Gib ihr Zeit, es zu verarbeiten und lass sie kommen.", schüttelte Anni mit dem Kopf.

Nele sah sie skeptisch an. "Ja, aber wir müssen doch irgendwas tun. Vielleicht…"

"Nele?" unterbrach Anni sie und sah ihr fest in die Augen. "Behandle sie einfach ganz normal und lass sie ansonsten in Ruhe. Sie kommt schon, wenn sie Hilfe braucht."

Die Entschlossenheit in Annis Miene überzeugte auch Nele.

"Okay.", lenkte die Rothaarige ein, ehe sie sich umdrehte und in die Runde fragte: "Also, ich brauch jetzt 'nen Tee, will noch jemand einen?"

"Ein Schnaps wär' mir lieber", antwortete Tuner und trug damit zur Erheiterung der Freunde bei.

"Der wäre medizinisch sogar vertretbar.", setzte Ayla augenzwinkernd noch einen obendrauf.

"Ey, das war ein Scherz, Leute! Ein Tee klingt super, Nele", verteidigte Tuner sich.

Die anderen schlossen sich an und langsam wich die Spannung aus dem Raum. Anni schaute zu Jasmin hinüber, ihre Blicke trafen sich und hielten sich einen endlos scheinenden Moment lang fest. Jasmin lächelte und ein warmes Gefühl durchfloss Anni als sie sah, dass die Frau, die ihr so wichtig geworden war, zum ersten Mal seit Wochen wieder glücklich wirkte. Sie bemerkte nicht, wie Nele sie beobachtete und erst ein wenig überrascht war, doch dann wissend vor sich hinlächelte.


Ende Kapitel 3.
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Re: Nike's Kopfkino (Fanfic)

Beitrag von nike_75 »

Kapitel 4

"Frau Flemming?"

Jasmin hob den Kopf. In der Tür stand ihre Therapeutin und lächelte sie an. Sie war älter geworden, die Haare ein wenig grauer, die Falten ein wenig tiefer, doch Jasmin spürte, wie sie beim Anblick des freundlichen Gesichtes ein wenig entspannte. Unruhig hatte sie die letzten 10 Minuten hier im Wartezimmer gesessen und mehr als einmal mit dem Gedanken gespielt, wieder zu gehen. Fliehen vor dem, was in diesen Räumen ausgesprochen und damit real werden würde.

"Kommen Sie bitte herein."

Jasmin stand auf. Frau Jellinghaus beobachtete die junge Frau, wie sie in ihr Büro voranging. Sie erinnerte sich gut an das junge Mädchen, das sie vor ein paar Jahren kennengelernt hatte. Voll von Angst war sie damals gewesen. Angst, dass ihr niemand glauben würde; Angst, dass man ihr die Schuld an dem Missbrauch durch ihren Adoptivvater geben würde; Angst vor der Begegnung mit dem Mann, der einen Teil ihre Jugend so unwiederbringlich zerstört hatte. Aber sie erinnerte sich auch an die Impulsivität und den Mut, mit denen Jasmin Nowak diesem Mann so entschieden entgegengetreten war an jenem Tag im Gerichtssaal, als über das Schicksal ihrer Mutter, die sie erst ein paar Monate vorher gefunden hatte, entschieden wurde. Sie hatte sich verändert, war erwachsener geworden und doch konnte die Therapeutin das Zögern sehen, mit dem sich die junge Frau bewegte. Die Angst war zurückgekehrt.

Die Therapeutin schloss die Tür hinter sich und deutete auf einen der beiden Stühle, die vor ihrem Schreibtisch standen:

"Bitte setzen Sie sich."

Die junge Frau ging zu einem der Stühle und nahm Platz. Frau Jellinghaus nahm hinter ihrem Schreibtisch Platz. Bemüht, die Atmosphäre zu entspannen, lehnte sie sich zurück und sah ihre Patientin an. Ihr war nicht entgangen, dass Frau Flemming auf der vordersten Kante des Stuhls saß und das nervöse Spiel ihrer Hände nicht unterdrücken konnte. Sie räusperte sich und die junge Frau ihr gegenüber sah erschrocken auf. Die Therapeutin lächelte sie sanft an und begann das Gespräch leise, aber bestimmt: "Frau Flemming, Sie sind einen Tag früher gekommen als geplant. Können Sie mir sagen warum?"
Jasmin war auf die Frage vorbereitet und erwiderte mit leicht zitternder Stimme: "Ich hatte letzte Nacht fast eine Panikattacke und ich hab Albträume, die nicht weggehen."

Frau Jellinghaus nickte. Sie konnte hören, dass die junge Frau diese Antwort schon viele Male vorher in ihrem Kopf gegeben hatte. "Es ist gut, dass Sie gekommen sind."

Ein scheues Lächeln huschte über Jasmins Gesicht bevor sie wieder ernst wurde. Sie hatte Angst vor den nächsten Fragen, die kommen würden . Unbewusst krallte sie die Fingernägel ihrer linken Hand in ihren Arm, nicht bemerkend, dass nur der Ärmel ihrer Bluse verhinderte, dass sie blutige Spuren hinterließ. Mit einem Anflug von Besorgnis beobachtete ihre Therapeutin die verkrampften Bewegungen. Sie wusste, dass Jasmin bereits früher zu Selbstverletzungen geneigt hatte und die Tatsache, dass ihr diese Impulse in der jetzigen Situation nicht bewusst wurden, sagte der erfahrenen Therapeutin, dass etwas Gravierendes passiert sein musste. "Wie lang haben Sie die Albträume schon, Frau Flemming?"

"Zehn Tage" kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen.
"Und was ist vor zehn Tagen passiert?", fragte Frau Jellinghaus mit weicher Stimme.

Schweigen.

Die Bewegungen von Jasmins Händen waren erstarrt. Wie gelähmt saß sie auf dem Stuhl und hatte das Gefühl, sich nie mehr bewegen zu können. Sie konnte nicht. Sie konnte es nicht aussprechen, nicht vor einer Fremden.

"Jasmin?" drang die sanfte Stimme ihrer Therapeutin an ihr Ohr und sie schaute auf. "Ist es in Ordnung, wenn ich Sie Jasmin nenne?"

Leicht verwirrt über die Frage, nickte Jasmin nur mit dem Kopf. "Ja, sicher, das ist okay."

Frau Jellinghaus lächelte, froh darüber, mit diesem kleinen Trick, ihrer Patientin ein klein wenig ein Gefühl der Kontrolle zurückgegeben zu haben. "Gut."

Einen Moment lang herrschte Stille in dem Zimmer und Jasmin lehnte sich ein wenig in den Stuhl zurück. Sie ließ die beruhigende Atmosphäre des Raumes auf sich wirken und merkte, wie sie sich ein wenig entspannte. Schließlich blickte sie wieder zu Frau Jellinghaus, die sie für ein paar Minuten beobachtet hatte. Wieder wurde sie nervös und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr, die ihr ins Gesicht gefallen war. "Es tut mir leid, es ist nicht leicht, darüber zu reden."

Ihre Therapeutin schüttelte den Kopf und erwiderte ruhig. "Es gibt nichts, was Ihnen leid tun muss. Sie sprechen über die Dinge dann, wenn Sie bereit dazu sind."

"Ja, aber ich will nicht Ihre Zeit verschwenden. Schließlich hab ich Sie um das Gespräch gebeten."

"Jasmin", Frau Jellinghaus stand auf und kam um den Tisch herum. Sie lehnte sich gegen die Kante ihres Schreibtischs und verschränkte die Arme vor der Brust. "Sie verschwenden meine Zeit nicht, das wissen Sie." Jasmin schaute sie einen Moment lang an und nickte schließlich. Dann stand sie auf und ging zum Fenster, den Rücken zum Raum gewandt. Frau Jellinghaus blieb stehen, wo sie war. Schließlich hörte sie die monoton gesprochenen Worte:

"Vor zehn Tagen haben mich zwei Männer sexuell belästigt. Sie haben mir den Mund zugehalten, so dass ich nicht schreien konnte. Dann haben sie mich festgehalten und ich konnte mich kaum bewegen, um mich zu wehren. Einer hat mein Oberteil zerrissen und sich an meiner Hose zu schaffen gemacht. Auf einmal war Dominik da und sie waren plötzlich weg."

Bei dem letzten Satz durchlief ein Zittern Jasmins Stimme und sie musste die Tränen, die ihr in die Kehle gestiegen waren, hinunterschlucken. Flüsternd fuhr sie fort: "Aber sie sind nicht weg. Jede Nacht sind sie wieder da und jede Nacht höre ich das Zerreißen des Stoffes, fühle die Schwielen an der Hand, die mir den Mund zuhält und kann ihren heißen Atem auf meiner Haut spüren."

Sie drehte sich wieder zu Frau Jellinghaus um und inzwischen liefen ihr die Tränen über ihr Gesicht.
"Verstehen Sie? Ich kann das nicht nochmal. Es ist als ob der ganze Albtraum wieder von vorne losgeht und ich pack das nicht."

Frau Jellinghaus ging zu ihr und nahm ihre zitternden Hände. Jasmin wich ihrem Blick aus, bemüht darum, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Nach ein paar Minuten wagte sie einen Blick ins Gesicht ihrer Therapeutin und sah ein aufmunterndes Lächeln in ihrem Gesicht.

"Jasmin", sagte Frau Jellinghaus mit fester Stimme, "Sie sind hier. Das allein ist der erste Schritt und ich weiß, dass Sie es schaffen werden. Weil Sie bereit sind, sich helfen zu lassen. Weil Sie nicht zulassen werden, dass diese Männer Ihnen Ihr Leben zerstören, genau wie Sie nicht zugelassen haben, dass Ihr Adoptivvater das tut."

Zweifelnd schaute Jasmin die ältere Frau an und sah nur Zuversicht und Vertrauen in ihren Augen. Mit einem leichten Lachen schüttelte sie den Kopf. Sie wusste nicht, woher Frau Jellinghaus diese Zuversicht nahm. Sie fühlte sich so hilflos und klein, wie sie es nicht mehr getan hatte, seitdem Dieter Nowak versucht hatte, sie in ihrem Laden zu vergewaltigen. Und das schlimmste war das nagende Gefühl in ihr, dass sie es sich zu einem gewissen Teil selbst zuzuschreiben hatte. Doch das war etwas worüber sie nicht sprechen konnte, noch nicht, vielleicht nie.

Frau Jellinghaus sah die widerstreitenden Gefühle in den Augen ihrer Patientin, und sie konnte sehen, dass da noch etwas anderes war, was sie belastete. Aber dann war es als ob die junge Frau diesen letzten Teil ihrer Gefühle in sich verschloss und sie verstand, dass die Zeit dafür noch nicht reif war. Sie ließ Jasmins Hände los und setzte sich wieder an ihren Schreibtisch. Jasmin wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und folgte ihr. Sie nahm auf der gegenüberliegenden Seite des Schreibtischs Platz. Erleichterung durchströmte sie, aber sie fühlte sich auch ein wenig leer und erschöpft. Die Therapeutin sah die Müdigkeit in den Augen der jungen Frau und beschloss, die Sitzung zu beenden. Es war genug für heute.

"Eine Frage habe ich noch zum Abschluss unseres ersten Gespräches. Sie hatten auch Albträume damals als Sie bei mir waren wegen Ihres Adoptivvaters, oder?"
Jasmin nickte.
"Können Sie sich erinnern, wann die aufgehört haben?"
Fast automatisch kam die Antwort. "Als ich ihn damit konfrontiert habe in dem Brief, den ich ihm geschrieben habe. Der Moment, wo ich ihm gesagt habe, dass ich das nie gewollt habe und dass er es war, der sich mir aufgezwungen hat."

Frau Jellinghaus lächelte sie an. "Machen Sie sich dieses Gefühl immer wieder bewusst, Jasmin. Das Gefühl, die Wahrheit ausgesprochen zu haben."

Erstaunen machte sich in Jasmin breit. Es war, als ob sie endlich klar sehen konnte und plötzlich wusste sie, was sie zu tun hatte. Kopfschüttelnd fragte sie sich, warum ihr das nicht früher bewusst geworden war. Jasmin blickte auf und sah, dass ihre Therapeutin aufgestanden war und ihr die Hand reichte. Sie ergriff sie und schüttelte sie leicht.
"Auf Wiedersehen, Jasmin. Wir sehen uns nächste Woche."
"Vielen Dank, Frau Jellinghaus."

Jasmin verließ das Büro und Frau Jellinghaus schaute ihr einen Moment lang nach. Sie wusste, dass ein langer Weg vor ihrer Patientin lag. Es war schwer, mit seelischen Verletzungen wie diesen fertig zu werden. Besonders dann, wenn sie sich wiederholten wie in Jasmins Fall. Frau Jellinghaus kehrte zu ihrem Schreibtisch zurück und begann sich Notizen zu machen über das, was sie in der letzten halben Stunde gehört hatte. An einer Kleinigkeit blieb sie hängen. Jasmin hatte eine Panikattacke erwähnt – vielmehr hatte sie gesagt, dass sie fast eine Panikattacke gehabt hätte. Was also hatte diese verhindert?


Leise schlich sich Jasmin in die WG. Die Tür war abgeschlossen gewesen, was bedeutete, dass Anni, Nele und Ayla nicht da waren. Jasmin war froh, allein zu sein. Die Therapiesitzung hatte sie mehr mitgenommen als sie vor sich selbst zugeben wollte und sie wusste, dass es noch nicht vorbei war. Schon auf dem Nachhauseweg hatte Jasmin mit Dominik über die Therapiesitzung sprechen wollen, ihr Handy jedoch in der WG gelassen, um während ihres Termins mit Frau Jellinghaus nicht gestört zu werden. Jasmin legte gar nicht erst ihre Jacke ab, sondern ging sofort in ihr Zimmer und griff nach ihrem Handy. Sie suchte Dominik aus den Kontakten und lauschte dem Rufzeichen:

"Hallo Jasmin, was gibt’s?", meldete sich Dominik am anderen Ende der Leitung. Aus dem Hintergrund drang Gemurmel und Musik, woraus Jasmin schloss, dass er im Vereinsheim arbeitete.

"Ich muss dich sehen, hast du jetzt für ein, zwei Stunden Zeit?"

Dominik runzelte über den nervösen Unterton in ihrer Stimme besorgt die Stirn. "Ist alles okay bei dir?"

"Ja, mach dir keine Gedanken.“, versuchte Jasmin ihn zu beruhigen. „Ich muss nur mit dir sprechen. Also kannst du aus dem Vereinsheim weg?"

Dominik drehte sich kurz um und beobachtete Tuner und Anni, wie sie die Gäste bedienten. Er kratzte sich kurz am Kopf.

"Naja, eigentlich hab ich die Spätschicht und Anni hat in einer halben Stunde Schluss. Aber ich kann sie fragen, ob sie noch für 'ne Weile übernehmen kann."

"Bitte, Dominik, kannst du sie fragen? Es ist wirklich wichtig!"

Aus ihrem Bitten wurde ein Flehen, was Dominiks Besorgnis nur noch mehr steigerte und so zögerte er nicht zu antworten: "Warte, ich frag sie. Ich ruf dich gleich zurück, okay?"

"Okay. Bis gleich."

Jasmin legte auf und setze sich auf ihr Bett. Sie schloss die Augen und spürte, wie eine bleierne Müdigkeit sie überkam. Am liebsten hätte sie die Augen zu- und nie wieder aufgemacht.


Im Vereinsheim steckte Dominik sein Handy ein und ging zur Bar. Er lehnte sich über den Tresen und zupfte Anni kurz am Arm, die grad einen KiBa zubereitete.

"Anni?" Sie blickte auf. "Sag mal, kannst du noch ein, zwei Stunden länger machen?"

"Nee, du. Ich muss heute unbedingt noch lernen, ich schreib in zwei Tagen 'ne sauschwere Klausur.", schüttelte sie den Kopf.

"Ach Mist verdammter." Dominik schlug leicht mit der flachen Hand auf den Tresen. "Warum muss Katta ausgerechnet jetzt krank sein?"

Tuner kam hinzu und fragte "Was'n los, Domi?"

"Jasmin hat gerade angerufen. Sie wollte mich unbedingt sprechen und hat gefragt, ob ich für ein paar Stunden Zeit habe."

Anni sah bei der Erwähnung von Jasmins Namen auf. Dominiks besorgte Miene alarmierte sie. "Ist alles in Ordnung mit ihr?"

Dominik sah sie an. Er zuckte mit den Schultern und erwiderte: "Sie sagt ja, aber ehrlich gesagt, bin ich mir da nicht so sicher. Sie klang ziemlich fertig."

Tuner nahm Anni den KiBa ab und meinte im Vorbeigehen zu seinem besten Kumpel: "Also von mir aus kannst du abhauen, ick pack' das für den Abend auch alleene."

"Danke, Tuner", schlug Dominik seinem Freund erleichtert auf die Schulter, "hast was gut bei mir."

Er wandte sich Anni zu, die ihn forschend anblickte. "Du weißt, dass sie heute ihren ersten Termin bei ihrer Therapeutin hatte?", fragte sie ihn leise, so dass niemand sonst es mitbekam.

"Was?", Dominik war verwundert, "Heute schon? Ich mein," er machte eine kurze Pause, "ich wusste, dass sie darüber nachdenkt, aber so schnell?"

Anni nickte, erwähnte aber nicht, dass der Albtraum der vergangenen Nacht wahrscheinlich der Auslöser für Jasmins Entscheidung gewesen war. Doch jetzt wurde Dominik klar, warum Jasmin am Telefon so erschöpft geklungen hatte. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie sehr die Therapiesitzungen vor ein paar Jahren sie immer mitgenommen hatten. Dominik machte sich auf dem Weg nach oben in die Wohnung, um sich umzuziehen. Noch auf der Treppe zog er das Telefon aus der Tasche und rief Jasmin zurück.

Anni blickte ihm nach und spürte einen kleinen Stich im Inneren. Wie gerne wäre sie an Dominiks Stelle gewesen! Doch dann schüttelte sie den Kopf. Es war total albern, in dieser Situation eifersüchtig zu sein. Sie blickte sich im Café um – es war ziemlich voll. Das würde Tuner nicht alleine schaffen.

"Hey, Chef", rief sie zu ihm hinüber, "ich bleib noch ein bisschen, wenn das okay ist."

Tuner kam wieder zur Bar. "Ick denk, du musst lernen?" Anni zuckte mit den Schultern. "Leg ich halt 'ne Nachtschicht ein."

"Okay, gebongt, Kleene. Dafür kannste morgen frei machen."

"Na das is' doch ein Deal.", grinste Anni und machte sich daran, den nächsten Kaffee fertig zu machen.


Ende Kapitel 4.
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Re: Nikes Kopfkino

Beitrag von nike_75 »

Kapitel 5

Vorsichtig lehnte Katrin die Tür zu ihrem Schlafzimmer an, nicht ohne vorher noch einmal einen Blick auf ihre schlafende Tochter zu werfen, die ihr in ihrem Doppelbett beinahe verloren vorkam. Der Raum war in das gedämpfte Licht einer der Nachttischlampen gehüllt. Katrin wusste aus der Vergangenheit, wie schreckhaft Jasmin manchmal auf vollkommene Dunkelheit reagierte. Dann wandte sie sich zurück zum Wohnzimmer, wo Jo am Fenster stand und still in die Nacht hinaus starrte. Dominik hatte sich vor einer halben Stunde verabschiedet als Jasmin entschieden hatte, die Nacht bei ihrer Mutter zu verbringen. Er musste ins Vereinsheim zurück.

"Sie schläft jetzt.", sagte Katrin leise, und Jo drehte sich zu ihr herum. Er konnte die Erschöpfung und die Sorge in ihrem Gesicht sehen und das beunruhigte ihn mehr als er zugeben wollte. Katrin konnte neben dem Ärger um Metropolitan Trends wirklich nicht noch mehr Stress gebrauchen. Nicht, wenn sie nicht einen erneuten Zusammenbruch riskieren wollte. Doch Jo wusste auch, dass das, was Jasmin passiert war, Katrin nicht loslassen würde.

"Es ist gut, dass sie morgen mit Dominik zur Polizei geht." Jos Stimme war fest und klar, wie immer, wenn er rational an eine Sache heranging. Katrin legte den Finger auf den Mund und bedeutete ihm, leiser zu sprechen. Dann lachte sie bitter auf. "Als ob die nach über einer Woche die Schweine noch bekommen würden." Die unterdrückte Wut ließ Katrins Hände zittern. Jo trat zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter.

"Katrin", er klang jetzt ein wenig weicher, "natürlich wäre es besser gewesen, wenn Jasmin sofort die Polizei eingeschaltet hätte. Und natürlich ist es auch nicht sehr wahrscheinlich, dass sie die Männer jetzt noch aufspüren, aber jeder Hinweis hilft. Wer weiß, ob Jasmin das erste Opfer von ihnen war. Ändern können wir an der Situation momentan sowieso nichts."

"Wie kannst du da so ruhig bleiben, Jo?", Katrins Stimme überschlug sich beinahe, auch wenn sie sich bemühte zu flüstern, "Jasmin liegt dort drin und sieht aus, als hätte sie seit Tagen nicht geschlafen. Ich hab schon darüber nachgedacht, ihr eine von meinen Schlaftabletten zu geben, damit sie überhaupt zur Ruhe kommt." Sie gestikulierte fast wild mit ihren Händen und das Zittern in ihrer Stimme wurde stärker als sie versuchte die Lautstärke unter Kontrolle zu halten, um ihre Tochter nicht zu wecken.

Jo sah sie scharf an.

"Katrin, das darfst du nicht machen, hörst du!", Katrin sah ihn verständnislos an und Jo fing leise an zu auf sie einzureden, "Hast du irgendeine Ahnung, was für Nebenwirkungen diese Medikamente haben? Deine Tochter kann dann nicht mehr klar denken!" Jo fasste Katrin bei den Schultern und schüttelte sie sanft. "Wenn Jasmin morgen früh nicht klar im Kopf ist, kann sie die Aussage bei der Polizei gleich ganz vergessen."

Katrin wurde bleich. Das hatte sie nicht bedacht. Jo schüttelte mitfühlend den Kopf. Er hatte fast vergessen, wie impulsiv Katrin sein konnte, wenn es um ihre Töchter ging.

"Tu ja nichts Unüberlegtes, in Ordnung?" Katrin nickte. "Und sag ihr, sie soll vor der Aussage nochmal kurz bei mir vorbeikommen. Wenn sie will, begleite ich sie auch."

"Danke, Jo.", erwiderte Katrin hörbar erleichtert.

"Schon gut.", antwortete er. Er konnte sehen, wie viel Anstrengung es seine Ex-Frau kostete, ruhig zu bleiben und sich vor Sorge nicht verrückt zu machen. Jo blickte ihr hinterher, als sie zum Kühlschrank ging und sich ein Glas Wasser eingoss. Dann nahm sie ein weiteres Glas aus dem Schrank, schenkte einen Schluck Cognac ein und reichte es ihm. Fast musste er ein wenig lächeln. Sie kannte ihn so gut. Jo nahm ihr das Glas ab und setzte sich auf's Sofa. Er beobachtete Katrin, wie sie ans Fenster trat und in die Dunkelheit hinaussah. Dann hörte er sie leise sagen:

"Ich will nicht, dass die Presse davon erfährt, Jo."

Er zuckte mit den Schultern. "Wenn jemand von der Polizei redet oder sie die Männer erwischen und es zum Prozess kommt, dann werden wir es nicht verhindern können."

Katrin drehte sich um. Eiskalte Entschlossenheit lag in ihrem Blick. Jo schluckte.

"Das ist mir egal. Die Presse wird meine Tochter nicht benutzen! Nicht dieses Mal." Sie funkelte ihn herausfordernd an. "Es ist mir egal, wen du bestechen oder bedrohen musst! Du wirst dafür sorgen, dass die Sache nicht an die Öffentlichkeit kommt!"

"Katrin, wie stellst du dir das vor? Ich kann der Presse nicht verbieten, über Fakten zu berichten. Nicht, wenn sie der Wahrheit entsprechen."

"Die Fakten!", in Katrins Stimme schwang unverhohlene Verachtung mit. "Als ob sich auch nur einer von diesen Schreiberlingen für die Fakten interessieren würde! Du weißt genau so gut wie ich, dass sie Jasmin durch den Dreck ziehen werden nach allem was vorgefallen ist."

"Daran ist deine Tochter leider nicht ganz unschuldig.", mahnte Jo, "Schließlich kommt ihr aktuelles Image ja nicht von ungefähr."

Katrin hob aufgebracht ihre Hände. "Herrgott nochmal! Meinst du, das weiß ich nicht?" Sie drehte sich zurück und beobachtete die Lichter der Stadt. "Wie oft hab ich sie gewarnt, wie oft hab ich versucht, ihr klarzumachen, dass sie in ihr Unglück rennt? Aber nein, sie musste ihren Dickkopf durchsetzen, ohne Rücksicht auf Verluste." Der Frust in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

Jo musste ein bisschen schmunzeln und erwiderte mit einem Hauch Sarkasmus in der Stimme "Tja, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, findest du nicht?"

Entrüstet drehte sich Katrin zu ihrem Ex-Mann um. "Entschuldige bitte, aber ich war nie so naiv wie Jasmin."

Jo schüttelte den Kopf. "Nein, naiv nicht. Aber stur und eigenwillig? Glaub mir, Katrin, ich kann ein Lied davon singen."

"Vielleicht hast du recht", lenkte Katrin ein und blickte nachdenklich zur Tür ihres Schlafzimmers, "Vielleicht sind wir uns ähnlicher als ich dachte."

Jo trank sein Glas aus und erhob sich. Katrin begleitete ihn zur Tür, um ihn zu verabschieden. Als Jo sich allerdings zu ihr beugte, um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben, trat sie einen Schritt zurück, damit es nicht dazu kam. Sie war ihm dankbar für seine Unterstützung, aber zu mehr Vertraulichkeiten war sie nicht bereit. Zuerst war Jo irritiert, doch schon bald wich dies echter Enttäuschung, hatte er doch geglaubt, seine Unterstützung in den letzten Wochen hätte seine Ex-Frau dazu gebracht, die Trennung nochmal zu überdenken. Auch wegen Johanna.
Jo versuchte, sich nicht anmerken zu lassen wie enttäuscht er war, dass Katrin einmal mehr auf Distanz zu ihm ging und verabschiedete sich von ihr, nicht ohne sie nochmal daran zu erinnern, Jasmin zu ihm zu schicken.

Dann fiel die Tür ins Schloss und Katrin war allein.

Einen kurzen Moment lang lehnte sie sich gegen die Wand neben der Tür und schloss die Augen. Die Stille des Raums legte sich wie eine schwere Decke über sie und für einen Moment hatte Katrin Angst, keine Luft zu bekommen. Es war einfach zu viel. Sie war erschöpft und müde. Ihre Rückkehr aus Indien war erst zwei Tage her und sie wusste, dass der abgeschlossene Vergleich mit den Indern Metropolitan Trends nicht würde retten können. Dass sie trotz ihrer Therapie noch immer kein Stück weiter war, wieder lesen und schreiben zu können, half auch nicht. Und jetzt noch Jasmin...


Als ihre Tochter vor zwei Stunden mit Dominik und Jo im Schlepptau vor ihrer Tür gestanden hatte, hatte sie schon geahnt, dass dies kein normaler Besuch war, um sich zu erkundigen, wie es ihr ging. Einen Moment lang war Katrin versucht gewesen, die Drei wegzuschicken, weil sie wirklich keine Lust und Kraft für das neueste Drama ihrer Familie hatte. Schon komisch, dass sie trotz der Scheidung von Jo, sie alle immer noch als ihre Familie betrachtete. Aber wahrscheinlich würde das wegen Johanna auch immer so bleiben.

Noch während Jasmin, Dominik und Jo in der Tür gestanden hatten, war Katrin aufgefallen, wie blass und unsicher Jasmin war. Dass Jasmin auf die direkte Frage, was los war, zusammenzuckte und der erschrockene Blick, den sie ihrer Mutter daraufhin zuwarf, versetzte Katrin in die Zeit zurück, als sie noch alle zusammen im Townhouse gewohnt hatten. Zu der Zeit hatte Katrin gerade angefangen, Jasmin richtig kennenzulernen und hatte erfahren müssen, was ihrer Tochter in ihrer Kindheit Schreckliches widerfahren war. Die Tage und Monate, die dem gefolgt waren, hatten sich Katrin für immer tief ins Gedächtnis gebrannt.

Als Jasmin sie schließlich mit zittriger Stimme gewarnt hatte, dass die Möglichkeit bestand, dass sie in den nächsten Wochen wieder verstärkt von der Presse verfolgt wurde, war Katrins erste Reaktion ein genervtes Augenrollen und die Frage: "Was hast du denn nun schon wieder gemacht?" gewesen. Jasmin hatte jedoch nur beschämt zu Boden geschaut und geschwiegen. Erst Jo erklärte ihr, dass Jasmin am nächsten Morgen zur Polizei gehen und Anzeige wegen sexueller Belästigung gegen Unbekannt erstatten würde. Ungläubig und sprachlos hatte Katrin Jo angestarrt, während Jasmin ins Badezimmer geflüchtet war. Nach ein paar Minuten hatte der Schock ein wenig nachgelassen und Katrin hatte Dominik aufgebracht gefragt: "Wo war Kurt als das passiert ist?"

Dominik hatte so leise gesprochen, dass selbst Jo neben ihm, ihn kaum hören konnte. "Kurt ist weg, in L.A. Er hat sich von Jasmin getrennt."

"Wann?"

"Vor ungefähr zwei Wochen."

Und dann hatte Dominik in kurzen Sätzen berichtet, was in den zwei Wochen, in denen Katrin in Indien gewesen war, passiert war. Katrin konnte kaum glauben, dass Jasmin tatsächlich dieses unsägliche Sextape selbst online gestellt hatte, aber all ihr Ärger darüber verflog, als Dominik von dem sexuellen Übergriff erzählte und wie knapp Jasmin tatsächlich an einer erneuten Vergewaltigung vorbeigeschrammt war. Die gleiche Hilflosigkeit wie vor ein paar Jahren, als sie Jasmin vor Nowak gerettet hatte, hatte Katrin erfasst. Warum musste das noch einmal passieren? Wie sollte ihre Tochter das verarbeiten? Sie hatte unglaubliche Angst, dass durch diesen einen Zwischenfall all die Fortschritte, die Jasmin in den letzten Jahren gemacht hatte, auf einen Schlag zunichte gemacht worden waren.

Katrin war dann ins Badezimmer gegangen, um nach ihrer Tochter zu sehen. Jasmin hatte hinter der Tür auf dem Boden gesessen, die Knie an den Körper gezogen und mit tränennassen Wangen. Schweigend hatte Katrin sie in die Arme genommen und versucht sie zu trösten, doch anstatt sich zu beruhigen hatte Jasmin nur noch lauter geschluchzt. Es war gewesen, als ob all der Schmerz und die Angst, die sich in den letzten zehn Tagen in ihr aufgestaut hatten, aus ihr herausbrachen. Katrin kamen selbst die Tränen. Vor Wut darüber, dass Jasmin all ihre Warnungen in den Wind geschlagen hatte, aber auch vor Schmerz darüber, dass sie nicht da gewesen war, als ihre Tochter sie am Meisten gebraucht hätte. Schon wieder.

Nach einer Weile war Jasmin so erschöpft gewesen, dass ihr Schluchzen immer leiser wurde. Schließlich hatte sie sich kraftlos gegen die Wand gelehnt und ihre Mutter angesehen.

"Es tut mir leid.", hatte Jasmin geflüstert.

"Shhh,", Katrin hatte ihr die Tränen sanft aus dem Gesicht gewischt. „Es gibt nichts, was dir leid tun müsste."

"Doch", widersprach ihre Tochter vehement, "wenn ich dieses scheiß Video nicht online gestellt hätte..."

Katrin hatte ihrer Tochter sanft über ihren Kopf gestrichen, um sie zu beruhigen und zum Schweigen zu bringen, genau wie damals, als Jasmin sich selbst die Schuld an dem Missbrauch gegeben hatte. Wiedermal machte sich Jasmin Vorwürfe für etwas, wofür sie letztendlich nicht verantwortlich war. Und auch das hatte Katrin unfassbar wütend gemacht.

"Es ist völlig egal, was du gemacht hast. Das gibt niemandem das Recht, dich gegen deinen Willen anzufassen.", hatte sie aufgebracht gemurmelt.

Jasmin hatte genickt und ihren Kopf an Katrins Schulter sinken lassen. Langsam hatte Katrin ihren Kopf gestreichelt und gespürt, wie ihre Tochter etwas entspannte. "Warum hast du mich nicht angerufen?", hatte sie leise gefragt.

Jasmin hatte den Kopf gehoben und unsicher mit den Schultern gezuckt. "Ich wollte dich nicht belasten nach deinem Schlaganfall und auch wegen MT.", hatte sie ebenso leise geantwortet und dann zu Seite geschaut bevor sie stockend hinzugefügt hatte "Außerdem hab ich mich geschämt. Niemand außer Dominik wusste davon."

"Jasmin, ich bin deine Mutter.", hatte Katrin mit einem leisen Anflug von Vorwurf in der Stimme erwidert.

Jasmin hatte sich zurück an die Wand gelehnt und ihren Kopf in die Hände gestützt. "Ich weiß, okay? Aber ich konnte einfach nicht." Verzweifelt hatte sie Katrin angesehen, neue Tränen in den Augen. "Es tut mir leid."

Katrin war im Angesicht der Resignation und Erschöpfung, die Jasmin ausstrahlte, fast das Herz gebrochen. In den letzten Tagen, das war nur allzu offensichtlich gewesen, hatte Jasmin nicht viel Schlaf bekommen. Gerne hätte Katrin mehr getan, als ihre Tochter nur zu trösten. Doch wie sollte sie ihr helfen und womit? Zu oft waren sie in der Vergangenheit aneinander geraten, wenn sie versucht hatte, Jasmin Ratschläge zu geben.

"Kann ich heute Nacht hier schlafen?"

Jasmins geflüsterte Frage hatte Katrin aus ihren Gedanken gerissen. "Natürlich kannst du hier schlafen.", hatte sie sofort eingewilligt. Jasmin hatte erleichtert die Augen geschlossen. "Danke."
Ein sanftes Lächeln auf den Lippen hatte Katrin sie angeschaut, glücklich, dass Jasmin doch ihre Nähe suchte anstatt sich zurückzuziehen, wie sie befürchtet hatte. "Komm, ich helf dir hoch. Zeit für dich ins Bett zu gehen."
Beim Blick auf die Uhr war Jasmin ein kleines, aber amüsiertes Lächeln über das Gesicht gehuscht, denn es war erst 21:30 Uhr. "Gott, ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal vor Mitternacht ins Bett gegangen bin.", hatte sie gegrinst.
"Es wäre wirklich schön, wenn du wenigstens einmal auf deine Mutter hören würdest!", hatte Katrin gespielt streng gekontert.
"Okay, okay, okay – Mama.", hatte sich Jasmin mit erhobenen Händen in ihr Schicksal ergeben. Katrin war ein wenig überrascht gewesen über die Bezeichnung 'Mama', die aus Jasmins Mund so ungewohnt klang und auch Jasmin hatte diesen besonderen Moment registriert und war ein wenig verlegen geworden. Schließlich hatte Jasmin die ausgestreckte Hand ihrer Mutter ergriffen und sich aufhelfen lassen.

Auf dem Weg aus dem Badezimmer waren die gedämpften Stimmen von Jo und Dominik an ihre Ohren gedrungen. Offenbar hatten sie sich über die Anzeige, die Jasmin am nächsten Tag bei der Polizei erstatten sollte, unterhalten. Jasmin hatte ihren offensichtlich so besorgten Freund umarmt und ihm versichert, dass es ihr gut ginge. Sie würde die Nacht bei ihrer Mutter verbringen.
Dominik hatte Katrin einen Blick zugeworfen und die hatte ihm zugenickt mit dem stummen Versprechen, sich gut um Jasmin zu kümmern. Beruhigt und mit dem Versprechen, Jasmin abzuholen hatte sich Dominik von allen verabschiedet und Katrins Wohnung verlassen.


Jetzt, eine gute Stunde später, und in Gedanken immer noch bei Dominiks Verabschiedung, schreckte Katrin ein leises Wimmern aus dem Nebenzimmer auf, in das Jasmin sich zuvor zurückgezogen hatte. Sofort machte Katrin sich auf den Weg zu Jasmin, und stellte fest, dass ihre Tochter, geplagt von Alpträumen, sich in ihrem Bett hin und her wälzte. Bei dem Anblick wurde Katrin ganz schwer ums Herz und wiedermal fühlte sie sich in die Zeit zurückversetzt, als sie von dem Missbrauch erfahren und Nowak Jasmin um ein Haar noch einmal vergewaltigt hatte. Damals hatte Katrin sich genauso hilflos gefühlt wie jetzt. Und wie damals konnte sie nicht mehr tun, als sich neben Jasmin auf das Bett zu legen und ihre wimmernde Tochter schützend in ihre Arme zu nehmen. Leise begann sie zu singen:

Wolken ziehn am Himmelszelt
Übers Land und übers Meer
Weit in eine ferne Welt
Der Abschied fällt nicht schwer.

Sie winken dir ein letztes Mal
Und schwingen mit dem Wind
Du bleibst in meinen Armen hier
Mein allerliebstes Kind.


Erst als die Strophe beendet war, bemerkte Katrin, dass Jasmin die Augen aufgeschlagen hatte und sie mit einem undefinierbaren Ausdruck in den Augen ansah.

"Das hast du mir nicht mehr vorgesungen seit ich zwei Jahre alt war."

Katrin traten Tränen in die Augen. Unbeholfen nahm Jasmin ihre Mutter in die Arme.
"Es tut mir so leid, Jasmin.", hörte sie ihre Mutter flüstern. Jasmin strich Katrin zögerlich über den Rücken "Es ist okay, Katrin, es ist okay." Sie spürte, wie das Schluchzen von Katrin zunahm und versuchte sie zu beruhigen. Als die Tränen langsam nachließen, löste sich Katrin aus Jasmins Armen und sah ihre Tochter traurig an.
Beide schienen in diesem Moment von der Vergangenheit gefangen zu sein. Und auch wenn sie und Jasmin die Situation rund um Katrins Weggang von ihrer Familie und Jasmins Adoption schon besprochen hatten, wusste Katrin, dass es immer noch in Jasmin nagte, damals zurückgelassen worden zu sein. Die Schuldgefühle, die Katrin deswegen empfand, waren über die Jahre weniger geworden, ganz verschwunden waren sie jedoch nie.
"Du weißt nicht, wie oft ich an dich gedacht habe, wenn ich Johanna dieses Lied vorgesungen habe. Das Lied, die Spieluhr – ich konnte es nicht loslassen, auch wenn ich noch so sehr versucht habe, meine Vergangenheit zu vergessen."
"Du hast mich vergessen." warf Jasmin leise ein, doch Katrin schüttelte vehement den Kopf.
"Nein! Niemals! Ich dachte nur, dass es dir woanders besser geht. Besser als bei meiner versoffenen Mutter oder bei mir. Wenn ich geahnt hätte..." Katrin brach ab und sah zur Seite. Das hatten sie alles schon einmal und es war Vergangenheit.
Katrin schwor sich, dass sie dieses Mal für ihre Tochter da sein würde, komme, was da wolle. Plötzlich spürte sie die warme Hand von Jasmin an ihrer Wange und sah auf. Jasmin lächelte. Traurigkeit und Sanftheit mischten sich in dem Lächeln und Katrin begriff, dass Jasmin mit diesem Teil ihrer Vergangenheit im Reinen war. "Es ist okay, Katrin, wirklich. Es ist vorbei.", wisperte Jasmin und küsste ihre Mutter leicht auf die Stirn. Gemeinsam schliefen sie schließlich ein.


Müde und frustriert hatte Jasmin am nächsten Tag um die Mittagszeit Probleme, die Tür zur WG aufzuschließen. Der Vormittag bei der Polizei war genau so verlaufen, wie es ihnen Jo prophezeit hatte. Immer wieder war die Frage gestellt worden, warum sie sich nicht sofort an die Polizei gewandt hatte und am Ende war Jasmin nur noch wütend über die Art der Befragung, die suggerierte, sie sei die Schuldige an dem Übergriff und nicht das Opfer. Weitere zwei Stunden hatten Dominik und sie damit zugebracht, sich durch Bilder von polizeilich bekannten Männern mit einem Hintergrund von sexueller Gewalt zu klicken – ohne Erfolg. Als einer der Beamten dann noch eine dämliche Bemerkung in Richtung Jasmin machte, die erkennen ließ, dass er das Sexvideo im Netz gesehen hatte, musste Jasmin Dominik zurückhalten, damit er nicht auf den Polizisten losging.

Endlich bekam sie den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. Jasmin hatte nur noch den Wunsch, sich in ihr Zimmer zurück zu ziehen und in Ruhe gelassen zu werden. Gereizt holte sie aus, um ihren Schlüssel und ihre Tasche auf den Tisch pfeffern, doch etwas, nein, jemand, ließ sie innehalten. Anni saß am Esstisch vor einem Haufen von Büchern, manche aufgeschlagen, andere noch geschlossen, von denen eines ihr als Kopfkissen diente. Mit einem Mal fiel sämtliche Wut von Jasmin ab. Ohne es tatsächlich zu bemerken lächelte sie, dann ging sie neben Anni in die Hocke und beobachtete sie eine Weile. Sie musterte die langen dunklen Wimpern, die glatte Haut und die vollen Lippen ihrer Freundin. 'Sie ist schön.', der Gedanke durchfuhr Jasmin und unbewusst streckte sie ihre Hand aus, um Anni eine Haarsträhne aus der Stirn zu streichen. Die leichte Berührung reichte aus, um Anni zu wecken. Blinzelnd schlug sie die Augen auf. Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke, bevor Jasmin sie mit einem leisen "Hi" begrüßte.
"Hi", räusperte sich Anni.
Jasmin grinste sie schelmisch an. "Wieso gehst du nicht ins Bett, wenn du müde bist?"
Anni streckte sich. "Hab 'ne Nachtschicht eingelegt. Ich schreib morgen Klausur. Aber ich glaub, ein paar Stunden Schlaf in meinem Bett wären doch ganz gut."
"Dann lass ich dich mal schlafen..." Jasmin wollte sich schon auf den Weg in ihr Zimmer machen, als sie von Anni leise zurück gerufen wurde. Interessiert drehte sie sich ihrer Freundin zu.
"Wie war es bei der Polizei?"

Jasmin senkte den Blick, unsicher, ob es richtig war, Anni schon wieder mit ihren Problemen zu belasten. Doch sie wusste, dass ihre Freundin nicht locker lassen würde und so stellte Jasmin den Blickkontakt wieder her. Sie zuckte mit den Schultern. "Viel Hoffnung haben sie uns nicht gemacht. Ich hätte eben sofort hingehen sollen. Jetzt ist es so gut wie ausgeschlossen, dass sie die Kerle kriegen."
Anni entging der Selbstvorwurf nicht, der in Jasmins Worten mitschwang. "Du hattest deine Gründe", erwiderte sie sanft.

"Klar, ich hab immer meine Gründe, nicht wahr?" Die Selbstverachtung, mit der sich Jasmin strafte, war jetzt nicht mehr zu überhören. Anni spürte, dass es hier nicht nur um die Aussage bei der Polizei ging. Spontan griff sie nach Jasmins Hand. Jasmin ließ sie gewähren, doch ihr Blick schien Anni herauszufordern, sie solle zugeben, dass auch sie ihr die Schuld an der Misere gab. Doch Anni schüttelte nur mit dem Kopf. In diesem Moment könnte ihr nichts ferner liegen als Jasmin Vorwürfe zu machen. Das hatte sie in den letzten Wochen schon genug getan und es hatte fast zu einer Katastrophe geführt.
Mit jeder Minute, die sie schweigend voreinander standen, verwandelte sich Jasmins Wut auf sich selbst in echte Verzweiflung und Scham, die ihr schließlich die Tränen in die Augen trieben. Hilflos blickte Jasmin zur Seite, unfähig die Tränen aufzuhalten, die ihr über die Wangen rollten. Plötzlich spürte sie Annis warme Hand auf ihrem Gesicht, die die salzigen Tropfen wegwischte. Ihre Blicke trafen sich erneut und Anni sah wieder diese abgrundtiefe Erschöpfung in Jasmins Gesicht. Blass und abgekämpft sah sie aus, die dunklen Augen eingesunken und anscheinend hatte Jasmin in den letzten Wochen auch abgenommen, wenn Anni sie sich genau anschaute. Sie beschloss, dass Jasmin Ruhe brauchte , und zwar echte Ruhe und nicht nur den Anschein davon. Und so zog sie Jasmin, die ihr ohne Widerstand folgte, in ihr Zimmer, wo sie sie zu ihrem Bett führte, ihr bedeutete, sich hinzulegen und den Wecker für drei Stunden später stellte. Anni selbst platzierte sich hinter Jasmin und legte schützend ihre Arme um sie.
"Schlaf!", forderte Anni ihre Freundin sanft auf, ehe sie selbst die Augen schloss. Es war ungewohnt, aber auch unbeschreiblich schön, Jasmin so nahe bei sich zu spüren. Und hier ging es nicht um Sex. Anni wollte einfach nur, dass Jasmin sich sicher fühlte und endlich zur Ruhe kam. Sie lächelte, als sie spürte, wie die Anspannung langsam aus Jasmins Körper wich und sie ruhig und gleichmäßig atmete. Anni schoss flüchtig der Gedanke durch den Kopf, dass sie sich daran gewöhnen könnte so einzuschlafen. Mit Jasmin in ihren Armen.


Ende Kapitel 5.
nike_75
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Re: Nikes Kopfkino

Beitrag von nike_75 »

Kapitel 6

Es dämmerte bereits, als Jasmin aufwachte und für einen Moment lang war sie orientierungslos. Lediglich, dass sie in einem fremden Bett, in einem anderen Zimmer, Annis Zimmer, lag, begriff Jasmin sofort. Sie schloss seufzend die Augen in Erwartung der in den letzten Tagen so allgegenwärtigen Angst, doch zu ihrer Überraschung stellte sich keine Angst ein. Im Gegenteil, sie verspürte den Wunsch, sich nochmal in die Kissen zu kuscheln und weiterzuschlafen. Ein Kichern erregte ihre Aufmerksamkeit und als Jasmin die Augen aufschlug, sah sie Anni grinsend im Türrahmen stehen.
"Na, du Schlafmütze, aufgewacht?", erkundigte sich Anni gut gelaunt.
Zaghaft lächelte Jasmin ihre Mitbewohnerin an, nun keinerlei Anspannung mehr verspürend. Gelassen streckte sie sich erst, lehnte sie sich dann zurück und musterte Anni.
"Und ich dachte schon, ich müsste die Prince Charming Methode anwenden.", neckte diese sie und kam zu ihr herüber, um sich auf die Bettkante zu setzen.

Jasmin brauchte einen Augenblick um zu verstehen, was ihre Mitbewohnerin meinte, bevor eine tiefe Röte ihr Gesicht überzog, was Annis Grinsen nur noch verstärkte. Spielerisch schlug Jasmin ihr auf den Arm: "Das hättest du wohl gern, hm?" Anni jedoch zuckte nur mit den Schultern und steckte ihr kurz die Zunge raus. Jasmin konnte nicht anders, sie musste einfach lachen. Überraschenderweise bereitete ihr Annis leichtes Flirten keinerlei Unbehagen. Es war, wie es schon so oft zwischen ihnen gewesen war – Anni brachte sie zum Lachen und es fühlte sich gut an. Schließlich griff Jasmin nach Annis Hand und hielt sie fest.

"Danke.", sagte sie leise. Ihre Stimme zeugte von ehrlicher Dankbarkeit für alles was Anni für sie schon getan hatte.

"Gern geschehen.", kam die sanfte Antwort und sie schauten sich in die Augen. Doch bevor der Moment zu intensiv wurde, ließ Anni Jasmins Hand los, stand auf und ging zur Tür. Dort angekommen, drehte sie sich noch einmal zu Jasmin um. "Ich hab Pizza bestellt, falls du mitessen willst. Reicht für uns beide."
Sie beobachtete, wie sich Jasmin zurück an die Wand lehnte und einen Augenblick lang in sich hineinzuhorchen schien.

"Ich hab Hunger."

Die Verblüffung in Jasmins Stimme entlockte Anni ein zufriedenes Lächeln. Da klingelte es schon an der Tür und Anni verließ das Zimmer, um den Pizzaboten in Empfang zu nehmen.

Jasmin blieb zurück und schloss noch einmal die Augen. Alles fühlte sich ein bisschen leichter an. Es war als ob die Nacht in den Armen ihrer Mutter und die paar Stunden Schlaf an diesem Nachmittag, ihre Kraftreserven zumindest ein wenig aufgefüllt hatten. Und jetzt hatte sie tatsächlich Hunger. Sie lachte leise auf und strich sich die Haare aus dem Gesicht.

Neugierig schaute sie sich um. Zunächst hatte es den Anschein, als wäre sämtliche Einrichtung und selbst die Dekoration in schwarz und weiß gehalten. Erst bei näherem Hinsehen, entdeckte Jasmin einen blauen Farbtupfer, verborgen hinter etwas Stoff. Sanft berührten Jasmins Hände den Stoff, worauf dieser wellenartige Schwingungen aussendete.
Als Leselampte diente Anni eine einfache Glühbirne in einer Fassung an einem langen Kabel, das von einem Maßband gehalten wurde, was Jasmin schmunzeln ließ. In diesem Zimmer gab es keinen Schnickschnack, keinen überflüssigen Kram, der im Fall der Fälle nur im Weg rumstand. Der Raum war Anni – einfach, klar, aber nicht unpersönlich.
Gerade als Jasmin aufstehen wollte, um sich eine bestimmte Fotografie an der Wand genauer anzusehen, steckte Anni den Kopf zur Tür rein und fragte: "Kommst du?". Erschrocken und ein bisschen verlegen ob ihrer Neugierde, blickte Jasmin Anni an, die jedoch nichts von ihrer Nervösität zu bemerken schien. "Ja, ja, ich komme." Sie stand auf und quetschte sich schnell an Anni vorbei, um ins Bad zu gehen. Die schaute ihr ein wenig verwundert nach.

Zehn Minuten später kam Jasmin frisch geduscht aus dem Bad und verschwand kurz in ihrem Zimmer, um sich andere Klamotten anzuziehen. Anni hatte derweil die Pizza auf zwei Tellern verteilt und ihre Bücher zur Seite geräumt, damit sie essen konnten. Als Jasmin aus ihrem Zimmer kam, stand Anni am Kühlschrank und erkundigte sich, ob Jasmin Wasser oder Wein zum Essen haben wollte.
"Wasser bitte, mit Alkohol hab ich's grad nicht so.", antwortete Jasmin, woraufhin Anni sie einen Moment lang forschend anblickte. Dann zuckte sie mit den Schultern, "Okay." und nahm eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank. "Kannst du noch...", sie deutete mit der Hand zu dem Schrank, in dem sich die Gläser befanden.

"Was hast du bestellt?", erkundigte sich Jasmin, als sie sich mit zwei Gläsern in der Hand zu Anni an den Tisch gesellte.
"Ähm, Peperoni, Zwiebeln und extra Chilischoten."
"Extra scharf, super."
"Nicht, dass du es bräuchtest", murmelte Anni, was ihr einen Blick von Jasmin einbrachte, der eine Mischung aus Verärgerung und Amüsement war.
"Anni, du musst zugeben, der Spruch ist selbst für deine Verhältnisse ziemlich platt."
Anni setzte ein schuldbewusstes Gesicht auf. "'Tschuldigung."
Jasmin musste über zerknirschte Anni's Miene lachen und zwinkerte ihr zu: "Ich bin mir sicher, das kannst du besser", was wiederum Anni zum Lachen brachte. Die kurzzeitig angespannte Stimmung zwischen ihnen löste sich in ausgelassenem Gelächter auf und beide griffen beherzt zu ihren Stücken Pizza. Am Ende war Jasmin mit ihrer Hälfte schneller fertig als Anni, was diese zu der Frage veranlasste, wann Jasmin das letzte Mal was Vernünftiges gegessen hatte.
Jasmin schüttelte nur den Kopf: "Keine Ahnung."

Anni legte ihr Stück Pizza zur Seite und wurde ernst. Sie schaute Jasmin an, die den Blick fragend zurückwarf. Leise sagte sie: "Du hast abgenommen." Verdutzt sah Jasmin erst Anni an und warf dann einen kurzen Blick an sich selbst hinunter. "Hab ich gar nicht gemerkt." Nachdenklichkeit hatte sich in ihren Ton gemischt. Anni zögerte. Die Gedanken und Sorgen, die sie sich in den letzten Tagen um Jasmin gemacht hatte, nagten an ihr, aber sie konnte auch die Unsicherheit in Jasmins Gesicht lesen und fast bereute sie es, das Thema angesprochen zu haben. Sie wusste einfach nicht, wie sie am besten mit der Situation umgehen sollte. Anni wollte ihr so gern helfen, aber wie sollte sie das anstellen?
Jasmin kämpfte mit sich. Annis Kommentar hatte den Horror der letzten Wochen wieder an die Oberfläche gebracht und Jasmin wollte nichts mehr, als ihn wegschieben, irgendwohin, wo der Albtraum sie nicht mehr verfolgte und zu ersticken drohte. Warum konnte es nicht einfach aufhören, weh zu tun? Jasmin schloss kurz die Augen und schaute dann zur Seite, bevor sie schließlich nach Annis Hand griff und sie mit rauer Stimme bat: "Anni, können wir das Thema heute Abend bitte einfach mal nicht ansprechen? Ich will einfach mal ein paar Stunden nicht darüber nachdenken. Bitte?"
Anni schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter, der sich bei Jasmins fast flehentlicher Bitte gebildet hatte. Selten in ihrem Leben hatte sie sich so unsicher gefühlt. Ihre Skepsis, ob dies der richtige Weg war oder ob sie nicht doch darüber reden sollten, kämpfte mit dem Bedürfnis, Jasmin jeden Wunsch zu erfüllen, solange es sie glücklich machte. Sie sah ihr forschend in die Augen und konnte erkennen, wie sehr Jasmin in diesem Moment die Ruhe und den Frieden brauchte. Also drückte sie Jasmins Hand und erwiderte nach einem kurzen Räuspern: "Klar, kein Problem." Dankbar sah ihre Freundin sie an.
Anni gab leise zu: "Ehrlich gesagt, muss ich auch versuchen, es aus dem Kopf zu kriegen. Ich schreib morgen meine erste Vorbereitungsklausur für die Abschlussprüfungen." Jasmin warf einen Blick auf die zur Seite geräumten Bücher.
"Morgen?"
Anni nickte. "Yep. Morgen nachmittag. Was mir noch ziemlich genau..." Sie schaute auf ihre Uhr. "… 17 Stunden – minus vielleicht fünf Stunden Schlaf – gibt, um mich vorzubereiten."

Noch während sie die Teller in die Spüle räumte, entschied Jasmin: "Okay, ich helf' dir!"
"Helfen? Wie willst du mir dabei helfen?“, fragte Anni verwirrt. „Ich muss halt lernen."
"Ich frag dich ab. Was ist das Thema?"
"Akkustik.“
"Okay, ich hab keine Ahnung, außer dass es was mit Tönen zu tun hat." Jasmin machte eine wegwerfende Handbewegung. "Egal. Ich kann dich trotzdem abfragen. Wie lernst du? Nur mit den Büchern?"
Annis Verwirrung wurde zunehmend größer. Das konnte sie nicht ernst meinen, oder?
"Anni?", riss Jasmins Stimme sie aus ihren Gedanken. "Wie lernst du? Hast du 'nen Hefter oder sowas?"
"Karteikarten. Ich lerne schon seit Jahren mit Karteikarten.", antwortete Anni, immer noch perplex über das spontane Angebot.
"Wo sind die?", sah Jasmin sich suchend um.
"Meinst du das wirklich ernst?", stellte Anni Jasmin schließlich die Frage, die ihr zuvor schon durch den Kopf gegangen war.
"Ja.", antwortete Jasmin entschlossen und griff sich das letzte Stück Pizza von Annis Teller. "Du musst morgen fit sein und ich brauch Ablenkung. Also frag ich dich ab."
Anni lächelte dankbar. "Okay, wie du willst. Ich hol die Karteikarten."
"Und ich räum ab."

Als Anni mit dem Stapel Karteikarten wieder aus ihrem Zimmer kam, blätterte Jasmin gerade in einem der Lehrbücher. Ohne Anni anzusehen, bemerkte sie trocken: "Irgendwie sieht das mehr nach Mathe und Physik aus als nach Musik."
"Joah, das ist es irgendwie auch. Das ist die schnöde Theorie hinter gut klingenden Konzerten.", schmunzelte Anni.
"Ich glaube, mir ist die Praxis lieber.", lachte Jasmin.
"Mir auch, aber leider fragt da morgen keiner nach." Sie reichte Jasmin den Stapel Karteikarten und fügte hinzu: "Die sind halbwegs sortiert, lass uns am besten mit den Definitionen anfangen."
Jasmin ließ die Karten wie bei einem Daumenkino durch die Finger schnippen. "Okay, fangen wir an. Was ist Schall und wie entsteht er?"
"Schall bezeichnet die Ausbreitung von Schwingungen in einem Medium, wie zum Beispiel Luft, Wasser oder in einem festen Körper. Er entsteht durch eine Änderung des Luftdrucks."
"Sehr gut.", lobte Jasmin ihre Mitbewohnerin. "In welche vier Bereiche werden Schallwellen unterteilt?"
"Die vier Bereiche sind der Infraschall, der unterhalb der Hörschwelle liegt, der Schall innerhalb des hörbaren Bereichs, oberhalb des hörbaren Bereichs – nennt sich Ultraschall – und der Hyperschall, der hat Frequenzen über 1 Gigahertz."
Jasmin las die Antwort auf der Rückseite der Karteikarte mit und nickte. "Richtig. Ich hab zwar keine Ahnung, was eine Schallwelle zum Ton und damit hörbar macht, aber die Antwort stimmt."
"Okay, pass auf. Wenn du einen Stein ins Wasser wirfst, dann kannst du sehen, wie sich die Wellen um diesen Punkt herum kreisförmig ausbreiten, ja?", setzte Anni zu einer Erklärung an, vergewisserte sich, dass Jasmin ihr folgen konnte und fuhr fort. "Nun stell dir vor, der Stein ist ein Geräusch oder ein Ton, der von einem bestimmten Punkt im Raum ausgeht, weil dir ein Glas runterfällt oder ich die Saite der Gitarre anschlage. Das Runterfallen oder Anschlagen verursacht Schwingungen in der Luft, die sich wie die Wellen bei dem Stein ausbreiten."
Jasmin beobachtete Anni, die inzwischen ihre Hände unterstützend einsetzte, um ihr alles zu erklären.
"Okay, mach weiter.", nickte Jasmin schließlich.
"Das war's eigentlich schon fast. Diese Schwingungen bzw. Wellen treffen auf dein Ohr und dadurch nimmst du das Geräusch oder den Ton wahr."
"Und was ist der Unterschied zwischen einem Ton und einem Geräusch?"
"Ganz einfach. Bei einem Ton sind die Schwingungen periodisch, das heißt, sie sind regelmäßig und bei einem Geräusch sind sie unregelmäßig."
"Cool." Jasmin war beeindruckt. Jetzt hatte sie zumindest eine Anfangsvorstellung, wie das funktionierte. Sie nahm die nächste Karte zur Hand und musste lachen. "Naja, den Unterschied zwischen Ton und Geräusch hatten wir dann ja jetzt gerade."
Jasmin nahm die nächste Karte und begann wieder die Frage abzulesen: "Was sind die wichtigsten Eigenschaften eines Tones und wie ergeben sie sich?"
"Das sind Tonhöhe und Lautstärke. Die Tonhöhe ergibt sich dabei aus der Anzahl der Schwingungen pro Sekunde und wird als Frequenz bezeichnet. Je höher die Anzahl der regelmäßigen Schwingungen pro Sekunde, desto höher der Ton. Die Lautstärke ist vom Schalldruck abhängig. Je näher du also an der Schallquelle und damit am Ausgangspunkt des Schalls stehst, desto lauter empfindest du den Ton."
"Ja, logisch", sagte Jasmin. "Wenn ich 100 Meter weg stehe, ist es immer leiser, als wenn ich zwei Meter daneben stehe."
"Yep, und jetzt weißt du warum." grinste Anni sie an.
"Okay, nächste Karte. Wovon hängt es ab, wie schnell sich eine Schallwelle ausbreitet?"
Anni überlegte kurz, dann schnippte sie mit den Fingern. "Das ist abhängig vor allem von dem Medium, in dem sich der Schall bewegt und daneben von Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Luftdruck und Kohlendioxidgehalt."
Jasmin überlegte kurz. "Okay, wo höre ich einen Ton denn nun schneller – an der Luft oder im Wasser?"
"Im Wasser breiten sich die Schallwellen bei gleicher Temperatur ungefähr viermal so schnell aus."
"Wow! Viermal so schnell? Ist ja der Hammer."
"Yep, das ist total cool. Stell dir vor, ein Ton wird in einer Entfernung von sagen wir zwölf Kilometern abgegeben. Dann braucht er an der Luft, wenn wir uns sämtliche Hindernisse, die den Ton aufhalten können, wegdenken, ungefähr 36 Sekunden bis du ihn hörst. Aber im Wasser braucht der Ton für die gleiche Strecke nur acht Sekunden bis du ihn hörst."
"Ist ja krass, darüber hab ich mir echt noch nie Gedanken gemacht. Und welche Auswirkungen hat das jetzt, wenn du ein Konzert abmischst? Ich meine, wir führen ja keine Unterwassermusik auf im Mauerwerk."
"Wäre auf jeden Fall mal eine Idee.", zwinkerte Anni Jasmin lachend zu.

Dann begann Anni zu erklären, wie sich all die Theorie auf die praktische Anwendung auswirkte, dass man in einem Raum zusätzliche Lautsprecher aufstellen musste, damit sich die Wahrnehmung der Musik im Raum nicht verschob. Sie versuchte, das aufzuzeichnen, aber schnell wurde deutlich, dass ihr dafür das räumliche Denken fehlte. Schließlich nahm Jasmin ihr den Stift aus der Hand und zeichnete es nach Annis Erklärungen auf. Die beiden jungen Frauen hatten so viel Spaß dabei und waren so vertieft, dass sie kaum bemerkten wie Nele nach Hause kam und müde in ihrem Zimmer verschwand. Die Karteikarten lagen längst vergessen auf der Seite, und Jasmin konnte die Leidenschaft, mit der Anni diesen Job machte, fast mit Händen greifen. Ein bisschen erinnerte sie das an sich selbst, an ihren Traum, eine erfolgreiche Modedesignerin zu werden und sie merkte, wie sehr sie die kreative Arbeit manchmal vermisste.

Als es plötzlich an der Tür klingelte, schreckten sie beide auf. Jasmin war gerade dabei, eine neue Zeichnung anzufertigen für ein Beispiel von einem sehr verwinkelten Raum und so öffnete Anni die Tür, rief Jasmin auf dem Weg aber lachend zu: "Hey, aber die Bühne steht nicht mitten im Raum."
"Warum eigentlich nicht?", fragte Jasmin zurück, während Anni die Tür öffnete, hinter der Katrin zum Vorschein kam.
"Guten Abend. Ich würde gern kurz mit Jasmin sprechen. Kann ich hereinkommen?"
Anni strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. "Klar, kommen Sie rein."
Jasmin blickte auf und lächelte ihre Mutter an. "Hey, Katrin."
Mit einem "Ich lass euch dann mal allein." zog sich Anni diskret zurück.
"Danke.", nickte Jasmin ihrer Mitbewohnerin zu.

Katrin stand immer noch an der Tür und spielte ein bisschen nervös mit ihren Händen. Jasmin schaute sie fragend an und Katrin sagte schließlich "Ich wollte einfach nur wissen, wie es heute morgen bei der Polizei gelaufen ist und ob es dir gut geht."
Sofort überkam Jasmin das schlechte Gewissen, hatte sie ihrer Mutter doch versprochen, sie wissen zu lassen, wie die Aussage bei der Polizei gelaufen war.
"Es tut mir wirklich leid! Ich wollte dich anrufen.", näherte sich Jasmin Katrin mit schuldbewusster Miene.
"Schon in Ordnung. Ich wollte nur wissen, ob es dir gut geht.", beruhigte Katrin ihre Tochter mit einem vorsichtigen Lächeln.
Jasmin nickte. "Ja, alles in Ordnung. Sie haben uns nicht viel Hoffnung gemacht, aber das war wohl abzusehen."
Katrin wunderte sich. Mit Jasmins Erleichterung, dass die Aussage bei der Polizei hinter ihr lag, hatte sie gerechnet, aber nicht damit, dass sie beinahe erholt wirkte. "Und das ist okay für dich?"
"Kann es ja jetzt eh nicht ändern.", zuckte Jasmin mit den Schultern.
"Ja, das stimmt.", stimmte Katrin ihr zu, doch dann fielen ihr die Bücher, Notizen und Jasmins Zeichnung auf, die auf dem Tisch verstreut lagen.
"Was macht ihr hier?", fragte sie verwundert.
Jasmin strich sich verlegen eine Haarsträhne hinters Ohr und erwiderte: "Ähm, ich helfe Anni beim Lernen. Sie schreibt morgen eine wichtige Klausur."
"Anni? Die junge Frau, die mir die Tür geöffnet hat? Ist sie nicht die Tontechnikerin aus dem Mauerwerk? Ich glaub, da hab ich sie schon mal gesehen."
"Ja, genau. Sie ist noch in der Ausbildung."
Katrins Blick pendelte noch einmal zwischen dem Chaos und ihrer Tochter hin und her und stellte fest, dass Jasmin schon lange nicht mehr so entspannt gewesen war. Was auch immer der Auslöser dafür war, es schien ihrer Tochter gut zu tun.
"Scheint ja Spaß zu machen.", merkte sie an.
"Das tut es.“, antwortete Jasmin.
Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus und schließlich meinte Katrin: "Okay, dann will ich euch nicht weiter stören."
Mutter und Tochter umarmten sich zum Abschied.
"Danke, dass du vorbeigekommen bist und wirklich, entschuldige nochmal, dass ich dir nicht Bescheid gesagt habe. Ich hätte anrufen sollen.", verabschiedete sich Jasmin, doch ihre Mutter schüttelte nur den Kopf.
"Das ist schon in Ordnung. Wichtig ist nur, dass es dir gut geht." Sie strich Jasmin über die Wange. "Ich wünsch' euch noch einen schönen Abend."
"Ja, ich dir auch", sah Jasmin ihrer Mutter lächelnd hinterher wie sie die WG verließ.

Jasmin stand noch einen Moment lang mit gesenktem Kopf an der Tür. Trotz Katrins Besänftigung plagte sie das schlechte Gewissen, dass sie nicht daran gedacht hatte, ihre Mutter anzurufen. Irgendwie hatte sie das total vergessen. Nele kam die Treppe herunter und sah Jasmin an der Tür stehen. Verflogen war die gelöste Atmosphäre, die geherrscht hatte als sie nach Hause gekommen war.
Zögerlich fragte Nele: "Hey, alles in Ordnung?
Jasmin wiegelte ab, deutete auf ihr Zimmer und bat Nele, Anni mitzuteilen, sie sei müde und in ihr Zimmer gegangen.
Verwundert über Jasmins gedrückte Stimmung schickte sich Nele an, Jasmins Auftrag auszuführen.
"Hey, bereit weiterzu... Oh, du bist es."
"Sorry, ich weiß, du dachtest, es wäre Jasmin.", bedauerte Nele.
"Schon okay.“ Anni machte eine wegwerfende Handbewegung, woraufhin ihr Nele berichtete, was Jasmin ihr aufgetragen hatte.
"Müde?", fragte Anni ungläubig, woraufhin Nele nur ratlos mit den Schultern zuckte. "Das ist Quatsch! Sie hat den ganzen Nachmittag hier bei mir gepennt."
Nele hob verwundert beide Augenbrauen.
"Es ist nichts passiert, Nele. Wir haben nur geschlafen.", rollte Anni mit den Augen.
"Ja, klar.", grinste Nele, nur um Minuten später wieder ein besorgtes Gesicht zu machen. "Ich hatte das Gefühl, irgendwas bedrückt sie. Vielleicht solltest du..."
Anni nickte nur abwesend und so verabschiedete sich Nele und wünschte eine gute Nacht, doch Anni sah kaum auf, so sehr war sie in Gedanken darüber, was zwischen Jasmin und ihrer Mutter passiert sein könnte, dass sich Jasmin jetzt wieder so zurückzog. 'Nachfragen oder in Ruhe lassen?', fragte sich Anni und beschloss dann, dass sie über die 'in Ruhe lassen ohne Erklärung'-Phase hinaus waren. Das hatte ihnen auch noch nie so richtig gut getan. Also ging sie zu Jasmins Zimmer und klopfte leise. Keine Antwort. Sie klopfte nochmals und sagte leise: "Jasmin? Ich will nur wissen, ob alles okay ist. Und ich geh hier nicht weg, bevor du nicht mit mir gesprochen hast."

Nochmal würde Anni Jasmin nicht in ihrem Zimmer vor sich hin grübeln lassen. Nach ein oder zwei Minuten Stille hörte Anni ein leises "Komm rein." und öffnete die Tür. Jasmin saß im Dunkeln auf ihrem Bett und spielte mit ihrem Handy herum. Sie sah Anni nicht an und so setzte sich Anni einfach neben sie. Als Jasmin nach einer paar Minuten immer noch nicht auf ihre Anwesenheit reagierte, legte Anni ihre Hand auf Jasmins, die mit dem Handy hantierte.
"Was ist los?" fragte Anni, leise und besorgt.
"Nichts.", antwortete Jasmin beinahe trotzig.
'Okay', dachte Anni, 'du bist stur? Das kann ich auch.' Sie ließ Jasmins Hand los und umfasste Jasmins Gesicht mit beiden Händen, so dass Jasmin gezwungen war, sie anzusehen. Eine Mischung aus Ärger, Schuldgefühlen und Verzweiflung spiegelten sich in Jasmins braun-grünen Augen. Schließlich wandte Jasmin den Blick ab.
"Jetzt komm schon, Jasmin", schubste Anni ihre Mitbewohnerin an der Schulter. "Sag mir was los ist."
Jasmin druckste herum und schließlich antwortete sie so leise, dass Anni sie kaum verstehen konnte: "Ich hab vergessen, Katrin anzurufen, nachdem Nik und ich bei der Polizei waren."
Anni schaute sie entgeistert an. "Und???" Sie hatte sprichwörtlich Fragezeichen im Gesicht.
"Katrin hat sich voll die Sorgen gemacht und sie hat sich gestern total lieb um mich gekümmert."
Anni verstand immer noch nicht, warum Jasmin das so quälte. "Ja, und? Sie ist deine Mutter. Natürlich kümmert sie sich um dich und natürlich macht sie sich Sorgen."
Jasmin schüttelte den Kopf. "Du verstehst das nicht. Das mit Katrin und mir, das ist kompliziert. Ich hätte das einfach nicht vergessen dürfen."

Anni setzte sich im Schneidersitz auf Jasmins Bett und nahm wieder ihre Hand. "Schau mich mal an."
Jasmin gehorchte.
"Wir haben jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder du erklärst mir, warum es so kompliziert ist..."
Jasmin schüttelte den Kopf und unterbrach Anni mit einem scheuen Lächeln "Glaub mir, DIE Geschichte willst du heute Nacht nicht hören."
"Lass mich raten, lang und kompliziert?", fragte Anni sanft.
Jasmin nickte und Anni fuhr entschlossen fort. "Okay, dann hier Möglichkeit zwei: Du hörst mir jetzt gleich ganz genau zu und dann gehen wir wieder da raus und du machst, um was du mich gebeten hast – einfach den ganzen Scheiß für heute Abend wegschieben. Du hast gesagt, du hilfst mir beim Lernen und ich nehm' dich jetzt beim Wort."
Jasmin musste lachen und schloss die Augen. "Okay, Meister Yoda – erleuchte mich mit deiner Weisheit."
Anni war einen Moment lang still und verschränkte schließlich ihre Finger mit denen von Jasmin, die daraufhin ein bisschen erschrocken die Augen wieder aufschlug, es aber geschehen ließ. Dann sah Anni ihr in die Augen und sagte ruhig: "Was glaubst du, ist deiner Mama lieber? Dass du sie anrufst, weil es dir beschissen geht oder dass du es vergisst, weil es dir gut geht?"
Jasmin blieb der Mund offen stehen. So hatte sie das noch nie betrachtet. Sie löste ihre Finger aus denen von Anni und umarmte sie spontan. "Danke", flüsterte sie.
"Gern geschehen", antwortete Anni leise. Erst nach ein paar Minuten lösten sie die Umarmung. Obwohl sie wusste, dass sie das nicht sollte, weil sie unterschiedliche Dinge voneinander wollten, genoss Anni die Nähe zu ihrer Mitbewohnerin, während Jasmin sich so wohl und sicher fühlte wie schon lange nicht mehr. Es fühlte sich einfach richtig und gut in Annis Armen an. Als sie sich schließlich voneinander lösten, strich Anni Jasmin eine Haarsträhne aus dem Gesicht und legte ihre Hand an ihre Wange. Jasmin schluckte. "Okay?", fragte Anni und Jasmin nickte. Anni stand auf und reichte ihr die Hand. Gemeinsam gingen sie wieder nach draußen, um da weiterzumachen, wo sie vor Katrins Besuch aufgehört hatten.


Ende Kapitel 6.
nike_75
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Re: Nikes Kopfkino

Beitrag von nike_75 »

*Staub rausklopfen und einmal durchlüften*

Hab mir gedacht, Chiara&Ava von AWZ sind die perfekte Gelegenheit, um meine Lost Scenes wiederzubeleben. Zur Erläuterung: Die Idee zu sogenannten "Lost Scenes" kam mir 2009/2010 im Zusammenhang mit Stell&Carla aus VL. Es waren/sind meist kurze Geschichten, die Lücken füllen sollen, die das Drehbuch lässt.

Eine erste Idee hab ich schon und werd heute abend versuchen, diese zu verwirklichen.

Bis bald,
Nike
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